Bei allem, was ich trainiere, geistert mir eine Maxime aus der Shōtōkan-Strömung im Kopf herum: „Der
Tsuki ist das Leben des Karate.“ (
Tsuki wa Karate no Seimei de aru.)
Umgekehrt bedeutet dies, daß Karate ohne dem
Tsuki tot ist. Egal was ich also an
Keri-Waza,
Nage-Waza,
Gyaku-Te usw. kenne und vor allem trainiere, ohne einen ordentlichen
Tsuki bleibt es totes Karate. Untermauert wird dieser Punkt durch die
Kata der Shōtōkan-Strömung. Schon Anfängern wird durch Ten no Kata, Taikyoku, Heian Shodan usw. klar, wie der
Tsuki im Karate gewichtet wird.
Im Laufe meines Karate-Lebens lernte ich viele Ansichten zum
Tsuki kennen – theoretisch und praktisch. Natürlich sollte, was mich betrifft, ein
Tsuki möglichst große Wirkung auf den Gegner entfalten. Ich meine, seine Einschlagwirkung sollte möglichst groß sein.
Äußerlich scheint der
Tsuki eine Lappalie zu sein. Meine Faust bewegt sich ziemlich geradlinig von A nach B – klar, das kann jeder! Es ist leicht, sich einzureden, daß der eigene
Tsuki wirksam ist, z.B. weil er sich „stark“ anfühlt oder weil er mit Hilfe des
Makiwara trainiert wurde. Aber wie oft wird der eigene
Tsuki an einem Menschen überprüft? Hält er einen heran rauschenden Partner wirklich auf?
Um es kurz zu machen – ich traf nur auf zwei, vielleicht drei
Sensei, deren
Tsuki mich wirklich überzeugten. Die
Tsuki dieser
Sensei waren wirksam, obwohl sie selbst von eher kleiner Statur waren und nicht mehr wirklich zur Jugend gezählt werden konnten. Besonders der
Tsuki meines Karate-Lehrers ist über alle meine Zweifel erhaben, da ich ihn immer wieder mal in
Kumite-Übungen von ihm in Empfang nehmen darf.
Für einen wirksamen
Tsuki ist die Ausbildung eines ordentlichen „Karate-Körpers“ erste Voraussetzung. Dafür benötige ich zunächst nur gute Anweisungen und den Willen, diese umzusetzen. Schreibe ich von „Entspannung“, werden zehn Leser zehn verschiedene Vorstellungen davon haben, was „Entspannung“ ist. Trotzdem möchte ich kurz erwähnen, daß Entspannung – so wie sie mein Karate-Lehrer vermittelt – grundlegend für einen wirksamen
Tsuki ist.
Selbstverständlich ist das nicht alles. Hinzu kommen viele weitere, bewußt zu steuernde Punkte. Für die erforderliche Körperarbeit des
Tsuki reicht am Anfang Solotraining. Aber ziemlich schnell benötige ich einen Partner, der mir beim Überprüfen verschiedenster Dinge, wie Körperhaltung, Timing meiner Bewegung usw., hilft. Und bis hierhin handelt es sich nur um meine eigene Person.
Ein
Tsuki erfüllt nur dann seinen Sinn, wenn er mit entsprechender Einschlagwirkung in einem Menschen landet. Also kommen für einen wirksamen
Tsuki noch Faktoren, wie Abstand zum Gegner, seine Größe und sein Gewicht, Rhythmus, geistige Verfassung usw., hinzu. Somit wird klar, daß ein
Tsuki nicht bloß eine banale Armbewegung ist.
Genau deshalb ist die fortwährende praktische Beschäftigung mit dem
Tsuki unabdingbar. Im Grunde ist der
Tsuki ständig in meinem Training präsent.
Problematisch wird es da, wo das Karate-Training selbst nur noch ein notwendiges Übel ist, um einen Grund zu haben, Bekannte zu treffen, „mal raus zu kommen“, das Ego durch bunte Gürtel oder Chef sein zu befriedigen, philosophische Gespräche führen zu können, Ablenkung und Abwechslung vom Alltag zu erhalten u.ä. Wenn da immer bloß der
Tsuki ist, fehlt die Abwechslung, philosophisches Blabla wird durch das Training gestört und Chef kann ich ja wohl schlecht sein, wenn ich meinen
Tsuki verbessern soll...
Für die, die wirklich trainieren wollen, ein kleiner Vergleich, den Nishiyama Hidetaka
Sensei einmal bei einem Lehrgang zum besten gab:
„Ich trage ein Schwert, mein Gegner trägt ein Schwert. Was mache ich, wenn mein Gegner zwei Schwerter oder drei Schwerter oder hundert Schwerter trägt? Im Karate gibt es sehr viele Techniken, die man nicht alle anwenden kann. Man muß ein oder zwei haben, die als beendender Hieb fungieren.“
Fraglos gibt es im Karate noch viele andere Dinge zu trainieren, aber ohne einen wirksamen
Tsuki, handelt es sich um totes Karate. Dementsprechend viel Zeit muß ich in sein Training investieren. Vielleicht lohnt es sich, diesen Punkt in Erwägung zu ziehen.
© Henning Wittwer