Montag, 20. Dezember 2010

Artikel über das Konzept des Kiai von Harada Mitsusuke Sensei

In Ausgabe 6/2010 des deutschen Karate-Magazins „Toshiya“ wurde ein Artikel meines Karate-Lehrers, Harada Mitsusuke Sensei, veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung stammt von mir. Im Vorfeld haderte ich ziemlich mit mir selbst, ob es überhaupt Sinn macht, seinen Artikel auf Deutsch zu veröffentlichen. Am Ende – wie nun jeder sehen kann – entschied ich mich dafür, nicht zuletzt, weil er mir bei der Übersetzung zur Seite stand und nichts dagegen hat.

In all den Jahren seiner Karate-Praxis schrieb er weder ein Lehrbuch, noch produzierte er einen Lehrfilm. Daher stellt dieser Text eine kleine Besonderheit dar.

Im Artikel erläutert Harada Sensei Hintergründe und Zusammenhänge zum Konzept des Kiai. Ich denke, seine Ansichten zu dieser Frage werden durch diesen Text klar, auch wenn die praktische Komponente natürlich nicht vollständig in Worte gefaßt werden kann...

Auf jeden Fall freue ich mich darüber, daß sein Artikel in deutscher Sprache herausgegeben wurde und möchte mich dafür bei Marié Niino von „Toshiya“ bedanken.

Update 2018: Funakoshi Gichin Sensei schrieb in den 1930er Jahren eine ausführliche Abhandlung über das Konzept des Kiai im Karate. Meine vollständige und kommentierte Übersetzung ist nun in Band III zu finden.

© Henning Wittwer

Freitag, 10. Dezember 2010

Fudō-Dachi: Ein Markenzeichen des Shōtōkan

Im historischen Shōtōkan wurde einige technische Anpassungen durchgeführt. Diese schlugen sich auch in der Gestik der Kata des Karate-Dō Shōtōkan-Ryū nieder. Hier möchte ich kurz über Veränderungen schreiben, die den Fudō-Dachi (in der JKA-Terminologie auch „Sōchin-Dachi“) betreffen.

In der Ten no Kata ist Fudō-Dachi der hauptsächliche Stand, vor dem Zenkutsu-Dachi und dem Kōkutsu-Dachi. Aber diese Kata wurde damals neu zusammengestellt. Übe ich heute also Ten no Kata, scheint es auch für andere Karateka normal zu sein, wenn ich dabei Fudō-Dachi benutze. Schließlich gehört er traditionell zur Ten no Kata.

Etwas anders ist die Wirkung, wenn ich z.B. eine Heian-Gata trainiere und dabei Fudō-Dachi gebrauche.

Funakoshi Yoshitaka Sensei wird nachgesagt, daß er die herkömmlichen Kata auf Praxisbezug hin untersuchte. Dies hatte unter anderem zur Folge, daß er den Fudō-Dachi an verschiedenen Stellen der Kata einsetzte. Manchmal ersetzte er einen Kōkutsu durch den Fudō-Dachi. Und manchmal wechselte er einen Zenkutsu mit einem Fudō-Dachi aus.

Mündlichen Zeugnissen zufolge bevorzugte Yoshitaka Sensei den Fudō-Dachi wegen seiner Tauglichkeit im Kumite. Und wie z.B. Ten no Kata Ura zeigt, lehrte er den Einsatz dieses Standes im Kumite. D.h. er wurde sowohl in Solo-Kata, als auch im Kumite trainiert.

Tatsächlich wurde der Fudō-Dachi also zu einem Markenzeichen des Karate aus dem historischen Shōtōkan.

Dummerweise konnten nur Leute, die in jener Zeit im Shōtōkan-Dōjō trainierten, diese Neuerungen wahrnehmen und gegebenenfalls übernehmen. Also findet sich der Gebrauch des Fudō-Dachi in den Kata und im Kumite heute eher nur in Übertragungslinien, die direkt auf den historischen Shōtōkan zurückgehen. Dies ist der historische Grund dafür, daß mein Karate-Lehrer den Fudō-Dachi betont. Über die technischen Gründe schreibe ich vielleicht später mehr.

Als kleine Schlussbemerkung folgende Hinweise: Ausführlicher zu den historischen Hintergründen dieser technischen Veränderungen äußere ich mich in meinem Buch. Technische Variationen des Fudō-Dachi beschrieb ich in einem Artikel, den Sie im Karate-Magazin „Toshiya“, Ausgabe 4/2008, finden.

(Update 2015: „Toshiya“, Ausgabe 4/2008, ist vergriffen. Mein Artikel findet sich etwas erweitert in „Karate. Kampfkunst. Hoplologie“.)

© Henning Wittwer

Montag, 6. Dezember 2010

Kata „normal“ & Kata „anormal“

Trainiere ich eine bestimmte Kata wie vorgesehen als Grundlage des Karate, dann folge ich einem vorgegebenen Ablauf. Das Enbusen, die Reihenfolge der Gesten und – ganz klar – die Anzahl der Gesten sind also bereits vorher festgelegt worden. Durch diese Festlegungen oder Formalisierungen („Kata“ meint ja letztlich nichts anderes als „Form“) ist es leicht, sich eine bestimmte Kata einzuprägen und sich beim nächsten Training an sie zu erinnern. Mit der Zeit geht das dann quasi automatisch, ohne daß ich an den Ablauf denken muß. Wie wunderbar!

Durch diese formalisierte Übungsgrundlage wird enorm viel Zeit gespart und es müssen nicht ständig neue Basisdrills ersonnen werden. Dazu kommt, daß ich mich – da ja alle Äußerlichkeiten verinnerlicht sind – mehr oder weniger ganz auf die eigentlich wichtigen Punkte konzentrieren kann, nämlich die Entwicklung meines „Karate-Körpers“, den richtigen Einsatz der „Körpermechanik“, das Wie meiner Fortbewegung usw. Auf all das könnte ich kaum oder weniger gut achten, wenn ich in jedem neuen Training eine neue Art von „Kata“ zu lernen hätte. Folglich ist richtige Kata-Übung als Grundlage des Karate eine prima Sache...

Irgendwann wird das dann völlig normal.

Budō, der kämpferische Weg, jedoch beinhaltet, daß sich der Adept in den unmöglichsten Situationen erfolgreich behaupten kann. Was ist in einer kämpferischen Auseinandersetzung schon normal? Richtig, nichts! Im Idealfall kann ich Ort und Zeit und äußere Umstände eines Kampfes beeinflussen. Aber selbst in diesem Idealfall gibt es unzählige Faktoren, die nicht nach Plan laufen können oder die ich nicht beeinflussen kann. Genau aus diesem Grund finden sich in den überlieferten Lehrschriften entsprechende Erklärungen sowie Stichworte, wie z.B. Rinki-Ōhen.

Im Budō-Karate ist das Training also u.a. darauf ausgerichtet, einen Adepten auszubilden, der möglichst frei zu agieren vermag. Fraglos ist das schwierig.

Genau in diesem Sinne setzt eine Übungsvariante für das elementarste Ding im Karate, die Kata, an: das spiegelverkehrte Ausführen einer Kata. Kase Taiji Sensei nannte diese Variante „Ura“ und unabhängig davon hält es auch mein eigener Karate-Lehrer manchmal für eine gute Idee, eine bestimmte Kata auf diese Weise zu trainieren.

Die fünf Heian-Gata starten normalerweise mit einem Schritt nach links. In der anormalen Ura-Ausführung würden sie dann also mit einem Schritt nach rechts starten. Die drei Tekki-Gata starten bei normaler Ausführung mit einem Schritt zur rechten Seite. In der Ura-Version werde ich folglich spiegelverkehrt dazu jeweils mit einem Schritt nach links beginnen. So kompliziert klingt das nicht, oder?

In der Praxis ist es dann aber doch nicht so einfach. Ich erinnere mich noch gut an eine Szene, in der Kase Sensei „Kankū Dai, Ura!“ forderte und als erste Antwort lautstark „Osu!“ entgegen gebrüllt bekam. Als zweite Antwort folgte heilloses Chaos. Seit dieser Zeit glaube ich übrigens, daß „Osu“ im Karate-Slang soviel bedeutet wie: „Ich habe keine Ahnung, worum es geht!“...

Jedenfalls zeigte sich da sehr deutlich, daß freies Agieren und Anpassungsfähigkeit trainiert werden müssen und nicht bei jedem vorausgesetzt werden können.

Abgesehen davon gibt es zwei weitere Gründe, die für das Ura-Training der Kata sprechen. Einige Kata, wie Enpi oder Bassai, sind sehr einseitig. Damit meine ich, daß sie für Rechtshänder gemacht sind und explizit Bewegungen aus der Linksauslage (Normalauslage) – um mal Boxervokabular zu nutzen – schulen. Einem Linkshänder hilft also die normale Ausführung der Kata zum Üben seiner eigentlichen Auslage, seiner starken Seite, wenig.

Schließlich darf nicht vergessen werden, daß Funakoshi Gichin Sensei die Leibeserziehung (Taiiku) als einen Wert seines Karate nannte. Und die sollte ausgewogen sein. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist das Training der Ura-Version einer Kata sinnvoll. Denn je öfter ich eine Kata ausführe, desto öfter trainiere ich einseitige Gesten. Z.B. führe ich bei 100 Heian Godan 100 Mikazuki-Geri mit dem rechten Bein aus, aber 0 mit dem linken Bein.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf, trainieren meine Trainingspartner und ich immer wieder mal Kata anormal.

© Henning Wittwer