Dienstag, 22. Februar 2011

Interview

Thomas Feldmann, engagierter Betreiber des HOPLOblogs, lud mich zu einem kleinen Interview ein. Ein gutes Interview hängt sehr von guten und interessanten Fragen ab. Und seine Fragen fand ich gut und beantwortete sie gern. U.a. geht es um meinen Karate-Hintergrund und Fragen zur Forschung auf dem Gebiet des Budō.

Auf dem beigefügten Bild befinde ich mich im nördlichen Kamakura, Japan, und stehe dort neben einem Gedenkstein für Funakoshi Gichin Sensei. Bei einer seiner Inschriften handelt es sich um ein Gedicht von ihm, auf das ich mich im Interview beziehe.

Lange Rede, kurzer Sinn, hier ist der direkte Link zum Interview:

http://hoploblog.wordpress.com/2011/02/21/sieben-fragen-an-henning-wittwer/

© Henning Wittwer

Montag, 7. Februar 2011

Tekki – Über den Zweck und den Sinn einer Kata

Hier folgen ein paar Erläuterungen zur Kata-Serie Tekki, alias Kiba-Dachi no Kata, alias Naihanchi, die sich hauptsächlich auf die Übungspraxis beziehen.

TEKKI ALS GRUNDLAGE DES KARATE ALS LEIBESERZIEHUNG UND KAMPFKUNST


Die Tekki-Serie gehört zu den grundlegenden Kata des Karate-Dō Shōtōkan-Ryū. Aus Sicht des Trainings gibt es dafür zwei Hauptgründe:

Erstens gab es zur Zeit von Itosu Ankō Sensei noch keine Fitneßstudios und keine Youtube-Fitneßtips. Um körperlich fit zu werden, wurden entweder europäische Gymnastiksysteme verwendet oder eben Kampfkunst. Itosu Sensei nutzte die Kampfkunst als Möglichkeit der Leibeserziehung innerhalb des Schulsystems der Präfektur Okinawa. Am Anfang unterrichtete er zu diesem Zweck seine drei Naihanchi (Tekki). Später kam Pinan (Heian) hinzu, aber Naihanchi wurde meistens bevorzugt.

Der Grund ist (1) die relative Einfachheit und (2) der nachvollziehbar ansteigende Anspruch für Anfänger in der Leibeserziehung (ja, der Begriff klingt angestaubt, ist aber korrekter als 'Sport').

(1) Mit Naihanchi wird niemand überfordert, weil keine Drehungen, Sprünge oder hohe Tritte trainiert werden; und die Armbewegungen selbst sind auch nicht zu kompliziert. Ein Wettkämpfer, der Unshu (Hatsuun) trainiert, wird das belächeln – aber genau das war ein Ziel. Schüler aller Grundschulen sollte in der Lage sein, diese Übungsform nachzuvollziehen und umzusetzen.

(2) Die erste Stufe von Naihanchi besteht aus zwei symmetrischen Hälften. Stufe zwei ist etwas schwieriger, da sie aus vier Teilen besteht, wobei das erste und das zweite Viertel sowie das dritte und das vierte Viertel symmetrisch sind. Die dritte Stufe ist dann völlig unsymmetrisch. So gab es für die Schüler von Stufe zu Stufe eine kleine Steigerung.

Zweitens ist vom Standpunkt der Kampfkunst aus ebenfalls die relative Einfachheit der Grund dafür, daß sie als Grundlage des Karate betrachtet wird. Einfachheit bedeutet aber nicht Anspruchslosigkeit. Mit Hilfe von Naihanchi können ganz grundlegende Fertigkeiten aufgebaut werden. Z.B. ist da das seitliche Gehen, bei dem ich u.a. lerne, w i e ich meine Beinmuskeln für „starke“ technische Anwendungen einzusetzen habe. Klar, mit „Bunkai“ hat das gar nichts zu tun, vielmehr mit zielgerichtetem Muskelaufbau, „Körpermechanik“ und dem Wie des Körpergebrauchs. Doch genau für dieses Wie benötige ich einen Sensei, der es mir vermittelt. Denn durch bloßes Abspulen des Ablaufs lerne ich nichts anderes als das bloße Abspulen des Ablaufs.

„Grundlage der Kampfkunst“ meint im übrigen nicht nur Grundlage der unbewaffneten, sondern auch der bewaffneten Teile der Kampfkunst Ryūkyūs. D.h., wenn ich die technischen Hürden von Naihanchi überwunden und verinnerlicht habe, kann ich diese „Körpermechanik“ mit weiterer Übung auch auf das Feld der Waffen – /Kon, Sai usw. – übertragen.

TEKKI UND ORTHODOXES SHŌTŌKAN-R

Im Shōtōkan-Ryū gibt es, abgesehen von Ten no Kata und Taikyoku, zwei Kihon-Gata, nämlich die Heian- und die Tekki-Serie. Eigentlich würde eine Kihon-Gata ausreichen, aber Funakoshi Gichin Sensei wollte unbedingt die zwei Ausprägungen des „Karate“ unter einem Dach lehren. Diese zwei Ausprägungen waren Shōrin-Fū – lies: Asato-Ha – und Shōrei-Fū – lies: Itosu-Ha. Heian bildet die Grundlage für Shōrin-Fū. Tekki bildet die Grundlage für Shōrei-Fū. Heutzutage wird meist die Heian-Serie betont und Tekki ist so eine Art notwendiges Übel, was daran liegt, daß die Unterschiede zwischen Shōrin-Fū und Shōrei-Fū mehr oder weniger ignoriert werden.

Jedenfalls gab Funakoshi Sensei seinen Schülern zwei inhaltlich verschiedene Grundlagen-Kata zum Üben, eben Tekki und Heian. Seiner Meinung nach sollten so die jeweiligen Vor- und Nachteile beider Ausprägungen verknüpft bzw. beseitigt werden.

Insbesondere für das Karate aus dem historischen Shōtōkan (1938-1945) war Tekki als Grundlage unabdingbar. Ungeachtet der anderen Adepten aus jener Zeit, geht die Übertragungslinie meines Karate-Lehrers direkt auf Funakoshi Yoshitaka Sensei zurück. Dadurch kommt es zu verschiedenen Besonderheiten, die sich auch im Wie des Körpergebrauchs niederschlagen. Und da Tekki die Grundlage ist, unterscheidet sich unser Ansatz zum Körpergebrauch von dem anderer Shōtōkan-Richtungen. Das ist wichtig!

Wir trainieren Tekki ziemlich regelmäßig und häufig, um genau diese Art des Körpereinsatzes kennenzulernen, auszubilden, zu verfeinern und zu pflegen. Ohne ihm bliebe unser Karate eine leere, gestuelle Hülle. Genau da liegt übrigens auch ein Hauptproblem der Bunkaiisten: Sie nehmen 1001 Bewegungsmuster („Anwendungen“) und halten diese stolz für Kampfkunst, für „richtiges“ Karate. Tatsächlich ist es mehr Schein als Sein...

Neben dieser „inneren“ Komponente, gibt es einen wichtigen „äußerlichen“ Faktor, der Tekki für orthodoxes Shōtōkan-Ryū bedeutsam macht. Wir benutzen ständig den Fudō-Dachi. Und dieser ist nichts anderes als eine abgedrehte Variante des Kiba-Dachi aus Tekki. Alles, was ich mittels Tekki bezüglich Struktur und Gebrauch des Körpers lerne, läßt sich unmittelbar auf den Fudō-Dachi übertragen. Besonders Yoshitaka Sensei soll diese Verbindung erkannt und vermittelt haben. Mehr zum Fudō-Dachi schrieb ich hier: http://gibukai.blogspot.com/2010/12/fudo-dachi-ein-markenzeichen-des.html

KUMITE ZUR TEKKI
Tür-Schließer-Tritt als erklärender Vergleich für Nami-Gaeshi in Tekki Shodan.

Bei den Kumite-Formen, die mit Tekki in Zusammenhang stehen, kommt der Nahkampf (Greifabstand) besonders zum Tragen. Natürlich ist das nicht alles. Da Tekki und Fudō-Dachi miteinander in Bezug stehen, dehnen sich die in Tekki erlernten Mechanismen und Bewegungsmuster auf alle weiteren Kumite-Formen aus, egal um welchen Abstand es sich handelt.

Karada no Shinshuku beispielsweise lernte ich von meinem Karate-Lehrer mittels Tekki in sehr präziser Art und Weise. Wenn ich diese Mechanismen in der Solo-Kata einsetzen kann, ist der nächste Schritt, sie in entsprechenden Kumite-Formen umzusetzen.
Pose „Anheben beider Ellbogen“ als erklärender Vergleich für Tekki Nidan.

Ich selbst finde historische Vergleiche bei diesen Kumite-Formen sehr interessant. In aktuellen Versionen der „Kata“, die ich für die chinesische Urform von Tekki halte – und die Ta Fan-Ch'ê heißt – gibt es zahlreiche Ähnlichkeiten. So ist meiner Ansicht nach die überlieferte Kumite-Form für Nami-Gaeshi aus Tekki Shodan eine Anwendung des „Tür-Schließer-Tritts“ (Pi-Mên T’i T’ui-Fa) aus Ta Fan-Ch'ê. Oder es dürfte sich bei der überlieferten Kumite-Form zur Doppelellbogen-Position aus Tekki Nidan um eine Anwendung der „Pose des gleichförmigen Anhebens beider Ellbogen“ (Chung-P'ing Shuang-T'i-Chou Shih) aus Ta Fan-Ch'ê handeln usw. usf. Es sind erstaunliche Parallelen...

Aber noch einmal: Ohne körperlicher Grundlage (Solo-Kata Tekki), kein Kumite, bestenfalls Herumgefuchtel.

Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, daß sich in meinem Buch ausführliche Betrachtungen zu historischen Hintergründen der Tekki-Serie finden.

© Henning Wittwer