Dienstag, 24. Mai 2011

Erinnerung an Funakoshi Yoshitaka aus dem Shōtōkan-Ryū

Heute kennen wahrscheinlich viele geschichtlich interessierte Anhänger des Karate-Dō Shōtōkan-Ryū den Namen Funakoshi Gichin. Scheinbar unbekannt, zumindest aber sehr viel weniger bekannt ist der Sohn von Funakoshi Sensei, Funakoshi Yoshitaka Sensei. (Sein Name kann bei gleichen Schriftzeichen auch Funakoshi Gigō gelesen werden.)

Wenige Karate-Anhänger scheinen zu wissen, daß Funakoshi Yoshitaka Sensei zum direkten Assistenten seines Vaters berufen wurde. Somit wirkte er aktiv und weiträumig bei der Ausarbeitung und beim Unterrichten des Karate-Dō Shōtōkan-Ryū mit. So verdanken wir ihm Übungsformen, wie Ten no Kata, Chi no Kata oder auch die Stock-Kata Matsukaze no Kon, die er mit Hilfe seines Vaters zusammenstellte.

Durch diese Übungsformen stellte er klare Richtlinien auf, wie Shōtōkan-Ryū auszusehen hat und wie es folglich geübt und umgesetzt wird. Seinem Einsatz verdanken wir also, daß unser Training nicht auf Spekulationen über Inhalte beruht, sondern auf konkretem, in der Praxis getestetem Lehrstoff.

In meinem Fall war es tatsächlich so, daß mich manchmal nur vage, aber um so phantastischere Geschichten über die Person von Funakoshi Yoshitaka Sensei zu meinem heutigen Karate-Lehrer brachten. Denn Harada Sensei entstammt einer Übertragungslinie, die unmittelbar auf Yoshitaka Sensei zurückgeht. Sie ist einzigartig.

Hier möchte ich noch einen Gedanken meines Karate-Lehrers anschließen. Er stellte schon manches Mal die Frage in den Raum, wie denn die Karate-Welt heute aussähe, wenn Yoshitaka Sensei nicht schon so jung verstorben wäre. Seiner Meinung nach, gäbe es dann mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Wettkampf innerhalb der Shōtōkan-Strömung, es würde ein ganz anderes technisches Niveau vorherrschen und die JKA wäre wohl nie gegründet worden…

Zur Person, zum Wirken und zum technischen Einfluß von Funakoshi Yoshitaka Sensei finden Sie viele Details (die korrekten…) in Band I und Band II meines Buchs.

Update 2018: Im neu erschienenen Band III stelle ich fünf Unterweisungen von Funakoshi Yoshitaka Sensei sowie eine Lebensbeschreibung vor.

© Henning Wittwer

Donnerstag, 5. Mai 2011

Karate und Ch’i-Kung

Hier möchte ich kurz zeigen, welchen Nutzen Ch’i-Kung (oder in einer anderen Umschrift Qì-Gōng) für das Training im orthodoxen Karate-Dō Shōtōkan-Ryū hat – nämlich keinen!

Auf meiner Suche nach gehaltvollerem Karate kam ich nicht umhin, mich mit chinesischem Ch’i-Kung auseinanderzusetzen. Gerade seit Anfang der 1990er Jahre schwappte es als Modewelle ins Karate. Weil es seit da als „unabdingbar“ für „echtes“ Karate beschrieben oder vermarktet wurde und künstliche historische Zusammenhänge vorgestellt wurden, fing ich an, mich aktiv damit auseinanderzusetzen.

1998 konnte ich dann bei Aoki Osamu Sensei, einem Vertreter einer japanischen Version des Ch’i-Kung (jap.: Kikō), trainieren. Er ist nicht nur ein hervorragender Kikō-Lehrer, sondern gleichzeitig ein Ausbilder aus den Reihen des JKA-Shōtōkan. In seinen Kikō-Trainings verwies er immer wieder mal auf seine Karate-Praxis.

Jedenfalls ging er – nach dem Training – freundlicherweise auch auf meine Fragen ein. Da ich in seinen Kikō-Trainings eine gewisse Ähnlichkeit zu Ideen von Egami Shigeru Sensei (die ich zu diesem Zeitpunkt nur theoretisch kannte) auszumachen glaubte, sprach ich ihn darauf an. Kurz gesagt, lautete sein Fazit:

„Was Egami Sensei macht, ist Budō. Wir machen mehr Sport.“

Seine ehrliche Antwort beeindruckte mich. (Und sie ließ mich weitersuchen…)

Jahre später kam mein Karate-Lehrer, Harada Mitsusuke Sensei, auf das Thema Kikō (Ch’i-Kung) zu sprechen. Dabei erwähnte er, daß er davon ausgeht, daß Kikō tatsächlich medizinisch wirksam ist und einen derartigen Nutzen hat. Doch daraufhin wurde er sehr ernst und erklärte:

„Herr XY verband Kikō mit Karate. Aber das hat nichts mit dem Shōtōkai und Herrn Egami zu tun! Es sind zwei verschiedene Dinge.“

Dazu sollte ich noch erwähnen, daß Harada Sensei direkt von Egami Sensei unterrichtet wurde.

Hier liegen also die Aussagen zweier echter Fachmänner vor, die beide aus Sicht der Praxis besagen, daß Kikō / Ch’i-Kung / Qì-Gōng nichts mit dem Karate aus der Shōtōkan-Strömung zu tun hat.

Meiner Meinung nach haben Personen, die zusätzlich zum Karate mit der Übung einer Richtung des Ch’i-Kung beginnen, das starke Bedürfnis, eine Lücke zu schließen, die sie in ihrem Karate-Training spüren. Sie wissen nicht, was und wie genau sie trainieren sollen, um Fortschritte zu erzielen, oder weshalb sie überhaupt trainieren. Zudem benötigen sie unter Umständen „Zusatzangebote“, um sich und ihr Karate besser vermarkten und „mehr Abwechslung“ schaffen zu können.

Andersherum sollte sich jeder Karate-Anhänger die Frage beantworten, wieviel Zeit ihm für sein Karate-Training zur Verfügung steht. Unter der Voraussetzung, daß ich weiß, was und wie ich zu trainieren habe, verbessert jede Minute Karate-Training mein Karate; jede Minute Ch’i-Kung mein Ch’i-Kung (aber eben nicht mein Karate). Jede praktisch oder theoretisch für Ch’i-Kung aufgebrachte Minute geht meinem Karate-Training verloren…

© Henning Wittwer