Montag, 19. Dezember 2011

Karate ist kein Yakuza-Fighting

Manchmal verlautbaren Leute, die sich für befähigt halten, ein solches Urteil abzuliefern, daß Karate „unrealistisch“ und ungeeignet für „die Straße“ sei. Mit „Karate“ meinen sie das, was sie selbst so aus ihrem meist nicht wirklich weiten Umfeld als „Karate“ kennen und für „Karate“ halten. Was oder wo genau „die Straße“ ist, läßt sich so leicht nicht beantworten, aber meist dürfte es sich dabei um eine eher diffuse Metapher für eine Situation handeln, in der sich jemand in einer nicht sportlichen Schlägerei wiederfindet oder als Opfer eines tätlichen Überfalls endet. Je nach Grad der Cleverness – weil wer den Durchblick hat, ist clever – werden dann Mixed Martial Arts (MMA), Krav Maga (KM) oder Supreme-Anti-Agonistic-Real-Terror-Vital-Point-Street-Defence-Jitsu (SAARTVPSDJ) – „Jitsu“ mit ‚i‘ – als „realistische“ Alternativen feilgeboten. Und damit verbunden entsteht ein Bild davon, wie ein „realistischer“ Kampf und folglich eine „realistische“ Vorbereitung auf denselben auszusehen hat. Klar, Karate kommt diesem Bild dann zumeist ganz und gar nicht nahe…

Ausweg aus dieser Misere ist, daß Karate „angepaßt“ werden „muß“, entweder subtil durch Integration von bunkaiistischen Lehren (die nichts anderes sind als MMA, KM, SAARTVPSDJ usw., welche in ein Karate-Korsett gezwängt wurden, um diesen bereits vorhandenen Markt nutzen zu können) oder direkt durch parallel laufendes Zusatztraining in MMA, KM, SAARTVPSDJ usw. Kurzum, nur wer diesem MMA-artigen Bild des sich prügelnden Kämpfens nahekommt, trainiert und ist „realistisch“!

Doch auch in einer Übungsform des Sport-Karate, die in Deutschland unverständlicherweise häufig „Randori“ genannt wird, findet manchmal nichts anderes als grobschlächtiges, mehr oder weniger „kontrolliertes“ Herumgeprügel statt. Dies läuft gerne mal unter dem Motto „nur die Harten kommen in den Garten“. Sorry, mit technisch ausgereiftem Karate hat so etwas nichts zu tun!

Kinder prügeln sich auf Schulhöfen – ohne jemals Karate oder gar MMA, KM, SAARTVPSDJ usw. trainiert zu haben. D.h., prügeln kann sich jeder. Je öfter sich jemand prügelt, desto versierter prügelt er sich. Um einfach mal „draufzukloppen“, brauche ich schlicht gar nichts trainieren.

Lange Rede, kurzer Sinn: Karate hat nichts mit einer Prügelei zu tun.

Funakoshi Gichin Sensei lehrte: „Karate ist die Kampfkunst der vollkommen tugendhaften Menschen (Kunshi).“

Einer seiner vielen Schüler, Kubota Shōichi Sensei, betonte: „Karate ist keine Rauftechnik (Kakutō-Gi).“

Und mein eigener Karate-Lehrer, Harada Mitsusuke Sensei, meint beispielsweise: „Karate ist kein Yakuza-Fighting.“

Aus technischer Sicht wäre es Zeit- und Energieverschwendung, einer technisch derartig tiefgründigen Kampfkunst wie Karate nachzugehen, wenn der Trainierende sich eigentlich nur hin und wieder mal prügeln oder in der Annahme einkuscheln will, daß er durch seine Trainingsteilnahme bestimmt als „Sieger“ aus künftigen Schlägereien hervorgehen wird. In diesen Fällen sind MMA, KM, SAARTVPSDJ usw. tatsächlich die sinnvollere Wahl.

Technisches Ziel im Budō-Karate ist die möglichst schnelle Beendigung einer kämpferischen Situation, nicht ein in die Länge gezogener Schlagaustausch. Und eben auf Grund dieses anspruchsvollen Ziels ist ein enormer Trainingsaufwand (und ein tatsächlich kompetenter Sensei) notwendig. Mein Trainingsziel diktiert Inhalt und Methode meines Trainings. Verfolge ich also ein anderes Ziel, wird es Zeit, mich dem Training einer anderen Kampfkunst, einem Kampfsport oder was auch immer zu widmen. Halte ich andererseits das technische Ziel des Budō-Karate für „realistisch“, erreichbar und erstrebenswert, dann muß ich auch demgemäß trainieren. Denn Wischiwaschi erzeugt Wischiwaschi…

© Henning Wittwer