Freitag, 10. August 2012

Extrovertiertes Training & introvertiertes Training

Karate, oder genauer das Karate aus der Linie meines Karate-Lehrers, besitzt einen wertvollen technischen Kern, den ich mir aneigne. Wertvoll ist er u. a. deshalb, weil er eine technische Wirksamkeit ausbildet, die besonders oder „anders“ ist.

Um mir diesen technischen Kern aneignen zu können, muß ich trainieren. Klar, trainieren müssen alle! Aber nicht alle trainieren gleich. In meinem Fall ist das erforderliche Training wirklich sehr introvertiert. Wenn ich das so schreibe, muß es also auch eher extrovertiertes Training geben. Wie sieht das aus? Schauspieler, Tänzer, Akrobaten, Sänger, Artisten, Zauberkünstler usw. kommunizieren mit ihrer jeweiligen Kunst nach außen in Richtung eines Publikums. Sie sind zufrieden, wenn beim Publikum etwas angekommen ist. Ich als Teil ihres Publikums bin zufrieden, wenn sie das, was sie machen, „gut“, „unterhaltsam“, „aufregend“, „überzeugend“ usw. bei mir ankommen lassen.

Ihr Training zielt bewußt nach außen. Auch im Karate gibt es solch extrovertiertes Training. Ein Kata-Wettkämpfer trainiert für eine Show. Er versucht nach außen hin „gut“ zu sein. Eine Karate-Showgruppe trainiert zum Unterhalten eines Publikums, um nach außen hin aufregend und unterhaltsam zu sein. Ein Bunkaiist zeigt der Welt sein „Bunkai“ und versucht damit zu vermitteln, daß er etwas verstanden hat. Ein „Traditionalist“ lernt Kata-Abläufe anderer (vermeintlich „älterer“) Ryūha auswendig, um zu demonstrieren, daß er über „tiefgründiges“ Wissen verfügt.

Eine Geschichte, die mein Karate-Lehrer immer mal wieder erzählt, verdeutlicht die Kluft zwischen den beiden Ansätzen: Egami Shigeru Sensei fungierte einmal als Prüfer. Ein von sich überzeugter Karateka trat vor und brüllte selbstbewußt den Namen seiner Kata: „B-A-S-S-A-I !“ Noch bevor er die erste Bewegung starten konnte, nuschelte Egami Sensei in seine Richtung: „Ah, ja, Herr XY, versuchen Sie es bitte nächstes Jahr nochmal!“ Der von ihm weggewinkte Karateka war mit Sicherheit ziemlich verstört – seine Kata hatte er ja noch nicht einmal begonnen. Das Problem war kein philosophisches oder spirituelles, sondern ein technisches. Egami Sensei erkannte u. a. bereits an der Körperhaltung des Prüflings, daß er – aus seiner Sicht – nicht das technische Verständnis besaß, das er forderte. Ich bin mir sicher, derselbe Prüfling hätte bei anderen Prüfern problemlos bestanden. Doch der Denkansatz von Egami Sensei war eben ein anderer; er gleicht dem, was Shimoda Takeshi Sensei (ein früher Schüler von Funakoshi Gichin Sensei) lehrte:
„Die Kata ist keine Sache zum Vorzeigen.“
Dieser Ansatz ist – um es nochmal zu betonen – nicht philosophischer oder spiritueller Natur. Er ist das notwendige Mittel, um (m)ein technisches Trainingsziel zu erreichen. Der Knackpunkt daran ist, daß (m)ein Karate-Lehrer notwendig ist, der vermittelt, was wichtig ist. Beim extrovertierten Ansatz kann sich ein Karateka nach Wettkampfkriterien, Kampfrichtern, der Erwartungshaltung des Publikums, des Prüfers usw. richten, um sein Training in die notwendige Spur zu lenken. Nichts davon hilft mir jedoch, mein Trainingsziel – das technische Vermögen meines Karate-Lehrers – zu erreichen. Nur er ist fähig, mir die dafür notwendigen Punkte nahezubringen. Um ein paar Beispiele zu nennen, die sich nur auf die Grundlage, die Übung der Kata, beziehen: Meine Kata dient nicht zum Vorführen, sondern zum Erlernen von Karate. Dafür muß ich u. a. während des Übens auf kleinste Punkte achten, sie mir bewußt machen, sie analysieren, nachjustieren, verbessern, abstellen. Beispielsweise richte ich meine Aufmerksamkeit auf die Druckverteilung im Fuß (wofür ich natürlich wissen muß, wie sie sein soll), ich achte auf bzw. steuere die Bewegung meiner Gelenke (wofür ich wissen muß, wie sie denn sein soll), die Entspannung meiner Schultern (wofür ich wissen muß, wozu) und vieles andere mehr. In der Summe führt dies zu technischer Fertigkeit (Waza). Bei Partnerübungen, im Kumite, verändert sich nichts an dieser kritischen, introvertierten Art der Übung.

Demensprechend müßte auch klar werden, weshalb mein Keiko einfach nicht so „aussehen“ kann, wie das Keiko anderer Karate-Ausrichtungen. Ein konkretes Trainingsziel zu haben, ist ein wichtiger Ausgangspunkt. Danach wird es enorm wichtig zu erkennen, welche Trainingsmethode zum Erreichen dieses Trainingsziels notwendig ist. Oftmals kennen Karateka ein, bestenfalls zwei Trainingsmethoden, meinen aber leider, daß damit jedes beliebige Trainingsziel erreichbar wäre. Auf diesen Denkfehler sollte geachtet werden …

© Henning Wittwer