Montag, 4. April 2016

Gedan-Barai: Stichpunkte zu Form und Funktion

Der Gedan-Barai bzw. der „Feger auf der unteren Stufe“ ist eine der absolut grundlegendsten Bewegungen im Karate-Dō Shōtōkan-Ryū. Erkennbar ist das an seinem Vorkommen in den Kata Taikyoku, Heian Shodan oder auch Ten no Kata. Mein Karate-Lehrer nennt ihn eine der drei (oder je nachdem vier) wichtigsten Techniken in seinem Karate.

Wie die äußere Form dieser Bewegung in etwa auszusehen hat, das weiß wohl jeder Neuling im Shōtōkan-Ryū nach kurzer Zeit. Klar, je nach Institution oder Übertragungslinie gibt es größere oder kleinere Abweichungen. Okuyama Tadao Sensei lehrte z. B. einen Gedan-Barai, bei dem die fegende Hand am Anfang nicht bis hoch zum Schulter-Hals-Bereich geführt wird. Aber ganz grob erkennt wahrscheinlich jeder Karateka einen Gedan-Barai. Eben diese äußere Form ist ein Grund für seine Wichtigkeit. Diese Form führt zum Funktionieren.

Wer das liest, denkt vielleicht sofort an „Bunkai“ oder an ulkige Bücher wie „101 Gedan-Barai“. Nein, mit „funktionieren“ meine ich etwas anderes.

Kase Taiji Sensei lehre ein Konzept, bei dem der Unterarmknochen wie eine Hiebwaffe eingesetzt wird. Er demonstrierte Gedan-Barai als scharf und hart in die Angriffsgliedmaße einschlagende (einschneidende) Technik. Und er ließ uns demgemäß üben, wieder und wieder. Ich liebte es. Ich liebte es, weil es funktionierte. Kase Senseis Ansatz war, dem Gegner mit dem ersten Kontakt klarzumachen, dass sein Angriff keine gute Idee war, dass sein Angriff ein Fehler war. Er selbst verkörperte diese Wirksamkeit noch als etwa 70-Jähriger Mann. Daran gibt es keinen Zweifel.

Dann stand ich meinem späteren Karate-Lehrer zum ersten Mal gegenüber. Während ich ihn angriff, machte ich mich auf Schmerzen im Unterarm gefasst – die kannte ich ja schon. Doch irgendetwas war anders an seinem Gedan-Barai. Darüber musste ich nachdenken, während ich mich vom Boden erhob. Und das, was anders war, wollte ich lernen. Tatsächlich verdrängte ich die mir bis dahin bekannten Karate-Ansätze (was notwendig war) und begann mich ausschließlich mit diesem für mich neuen Ansatz zu befassen.

Wer sich selbst oder die gegnerische Angriffsgliedmaße mit seinem Gedan-Barai „blockiert“, kann nicht „fegen“. Rein sprachlich ist das schon ein Unterschied. Und rein technisch bewirkt das einen großen Unterschied. Am Blockieren ist je nach Situation nichts verkehrt. Aber das Ergebnis ist beim Fegen ein anderes.

Die technische Form des Gedan-Barai nötigt mich dazu, den Arm und die Schulter nach unten zu bewegen. Und genau das ist ein Knackpunkt, wenn es um das Funktionieren des Gedan-Barai gehen soll. Diese Art von Bewegungsgefühl kann dann auf alle anderen Bewegungen übertragen werden – vorausgesetzt, der Karateka bekam es wirklich vermittelt.

Während die äußere Form des Gedan-Barai in der Soloübung (Kata) eher gleichbleibend und vollständig ausgeführt wird, ist sie in der Partnerübung (Kumite) häufig wechselnd und unvollständig. Doch bestimmte äußere Förmlichkeiten bleiben auch im Kumite bestehen. Fielen sie weg, dann würde der Gedan-Barai an Wirksamkeit verlieren oder gar nicht mehr funktionieren.

Zusätzlich zur äußeren Form sind für das Funktionieren des Gedan-Barai selbstverständlich noch viele andere Faktoren von Bedeutung, z. B. sehr gutes Timing (und kein „Fake-Timing“), Abstandsgefühl oder auch ein entschlossener Angriff. Aber auf diese Faktoren möchte ich an anderer Stelle zu sprechen kommen …

© Henning Wittwer