Dienstag, 15. Januar 2013

Mangelhaftes verwerfen und Hervorragendes ergreifen

Für mich war mein Karate-Training von Anfang an eine Art Suche, eine Suche nach „richtigem“ Karate bzw. nach „perfektem“ Karate. Mit dem, was ich zunächst zu sehen und zu spüren bekam, war ich nicht so wirklich zufrieden. Da es aber „Karate“ genannt wurde und von „Karate“-Lehrern und „Karate“-Koryphäen unterrichtet wurde, trainierte ich es artig.

Funakoshi Gichin Sensei nutzte eine Unterweisung, die ganz grundlegend ist:
„Verwerfen Sie Mangelhaftes und greifen Sie nach Hervorragendem.“
Diese Unterweisung macht klar, daß konsequentes Verhalten unabdingbar ist, wenn es um Karate-Training geht. Und so wurde mir recht schnell bewußt, daß das Bild des von mir ausgeübten Karate sowie Übungsinhalte und die Übung selbst nicht immer so bleiben werden wie ich es aus meinen Anfangstagen kannte. Ich hatte also keine Scheu davor, Mangelhaftes in meinem Karate zu verwerfen.

Im Laufe der Zeit besuchte ich Trainings und Lehrgänge der besten (und ich meine „der besten“!) japanischen und okinawanischen Karateka, die ich ausmachen konnte. Schritt für Schritt tendierte ich zum Karate einer mittlerweile verstorbenen Karate-Größe. Warum? Weil mich ihr Können (damit meine ich ihre tatsächlich demonstrierte technische Fertigkeit) und ihr praktisches Training anzogen. Ich wollte diesen Stoff trainieren. Folglich mußte ich mein bisheriges Training umstellen (d. h. verbessern). Natürlich betraf das auch die Leute, mit denen ich trainierte. Auch sie mußten konsequent handeln lernen.

Vor über zehn Jahren traf ich dann auf meinen heutigen Karate-Lehrer, Harada Mitsusuke Sensei. Im Vergleich zu allen Karate-Lehrern, die ich davor traf, war sein technisches Vermögen (für mich) das höchste. Sein Karate war (für mich) das beste. Nun gab es zwei Möglichkeiten. Entweder ich gebe mich wider besseres Wissen mit meinem bisherigen „Karate“ zufrieden oder ich fange quasi wieder von Null an und folge dem Unterricht Harada Senseis.

Sich selbst einzugestehen, daß etwa zehn Jahre bisheriges Karate-Training mehr oder minder für die Katz gewesen sein sollen, ist keineswegs leicht. Es dauerte also eine gewisse Zeit, um zu erkennen, daß es tatsächlich keinen Sinn macht, an „liebgewordenen“ Trainingsgewohnheiten festhalten zu wollen. Schließlich wollte ich nach Hervorragendem greifen …

Seitdem änderte sich mein Training grundlegend. Beispielsweise war ich in den ersten zehn Jahren besessen von coolen (hohen) Tritten. Ergo widmete ich einen nicht unerheblichen Teil meines Trainings diesem Thema. Die technisch besten Tritte sah ich jedoch bei meinem heutigen Karate-Lehrer. Die waren aber weder hoch, noch sonderlich beeindruckend, was ihre äußere Form anging. Ihre Wirkung am Trainingspartner war das, was mich verblüffte. Natürlich taugte mein altes Trittraining nicht dazu, eine solche Wirkung hervorzuzaubern, und ich gab es auf.

Im Karate bringt es nichts, von „konsequentem Handeln“ zu reden und darüber zu philosophieren. Fähnchen im Wind zu sein ist für alles von Vorteil, nur nicht für das eigene Training und den eigenen Fortschritt. Modewellen zu reiten und Strohfeuer zu entzünden führt keineswegs zu echtem technischen Vermögen. Diese Punkte zu verstehen, ist bereits ein großer Schritt in die richtige Richtung …

Bevor jemand konsequent handeln kann, muß er sich jedoch selbst ein paar Fragen beantworten, z. B.:

Will ich einfach nur hin und wieder Chef sein oder geht es mir wirklich um Karate?

Will ich auf Sensei machen oder will ich mein Karate verbessern?

Will ich Bunkaiisierer sein oder will ich tatsächlich Karate lernen?



Ich beantwortete solche Fragen für mich ohne Wenn und Aber. Danach brauchte ich „nur noch“ nach Hervorragendem zu greifen und Mangelhaftes zu verwerfen.

© Henning Wittwer