Sonntag, 2. März 2014

Der Karate-Körper

„Karate-Körper“ ist ein Ausdruck, der immer wieder von meinem Karate-Lehrer, Harada Mitsusuke Sensei, verwendet wird. Ich möchte hier – wie schon angekündigt – den Versuch wagen, ihn zu erklären. Jede Sportart hat besondere Anforderungen an einen Athleten. Trainiert der Athlet auf hohem Niveau, wird er im Rahmen dieser Sportart sportliche Erfolge erzielen können. Wegen der besonderen Anforderungen seiner Sportart entwickelt der Sportler bestimmte Muskeln stärker als vielleicht andere. Auf diese Weise bildet er einen Körper aus, der den Anforderungen seiner Sportart entspricht. Das ist ganz normal. Der Körper eines Profischwimmers sieht anders aus als der Körper eines Profifußballers oder der Körper eines Profilangstreckenläufers oder der Körper eines Profiboxers. Wird Karate regelmäßig und systematisch ausgeübt, entwickelt sich mit der Zeit ebenfalls ein Körper, der den spezifischen Anforderungen des Karate-Trainings entspricht.


Karate ist aber nicht gleich Karate. Daher sind auch die spezifischen Anforderungen an das Karate-Training teilweise sehr unterschiedlich. Ich beziehe mich an dieser Stelle auf mein persönliches Karate-Training, das dem Unterricht meines Karate-Lehrers folgt. Deswegen ist auch der Begriff „Karate-Körper“ mit meinem persönlichen Karate-Training verknüpft. Beispielsweise stellt der Typus großer, muskulöser Mann als Karate-Ausbilder (für tolle Sachen wie Bunkai, Real-Street-Fight, Knockdown-Karate usw.) keinen Karate-Körper in meinem Sinn dar. In meinem Karate-Training muss auch eine kleine Person oder eine Frau die Fertigkeit erlangen, reale technische Wirksamkeit an Trainingspartnern erzeugen und sich selbst schützen zu können. Das meint Karate-Körper in meinem Sinn.

Kurz zusammengefasst ist der Karate-Körper:

  1. die körperliche Erscheinung des Karateka nach langem, regelmäßigen Keiko
  2. ein körperlicher (und geistiger) Zustand, in den sich der Karateka versetzt

Zur körperlichen Erscheinung des Karate-Adepten würde sich ein Bildervergleich anbieten – aber das wäre wohl aus Sicht der Vergleichssubjekte nicht so toll. (Wobei selbstverständlich die Sichtweise ausschlaggebend ist.) Allgemein sind die stolz geschwellte Brust, die massiven und/oder hohen Schultern oder auch breitbeiniges Herumgestehe Merkmale, die mit dem Karate-Körper, wie ich ihn verstehe, nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Diese Merkmale künden von vielerlei Fähigkeiten, bloß nicht von den Karate-Fähigkeiten, auf die mein Keiko abzielt. D. h. auf den ersten Blick ist erkennbar, dass diese Körper nicht dieselbe technische Wirkung hervorbringen, die Adepten meiner Karate-Ausprägung hervorbringen. Bestenfalls können sie sie (rein äußerlich) schlecht nachäffen.

Im Keiko selbst versuche ich einen Zustand zu erreichen, der meinem bisherigen Verständnis des Karate-Körpers nahe kommt. Dabei muss das Skelett und die gesamte Muskulatur einbezogen werden. Natürlich funktioniert das nicht ohne aktives Nachdenken und Bewusst machen der Vorgänge, die sich unter meiner Haut abspielen. Also gehört zum Karate-Körper auch „geistige“ Tätigkeit. Den Kopf „abschalten“ kann ich in meinem Keiko folglich  nicht. In diesen Zustand möchte ich gelangen, um technische Wirksamkeit am Trainingspartner zu erzielen. Leicht daher geschrieben, schwer in die Tat umzusetzen. Ab einem bestimmten Stadium (jenseits der völlig grobschlächtigen Anfängerzeit) handelt es sich beim Finden des Karate-Körpers um sehr subtile Punkte. Ein Beispiel: bei einer bestimmten Partnerübung fragte ich mich, weshalb mein mich angreifender Partner trotz meiner Anstrengungen und meiner Selbsteinschätzung nach eigentlich guten Ausführung keine Reaktion sehen ließ. Nach einer Weile erlöste mich mein Karate-Lehrer, indem er mich fragte, ob ich die Kata Jion kenne. Bei mir machte es Klick, ich passte meinen Karate-Körper an und mein Partner reagierte unmittelbar. „Jion“ klingt für Außenstehende sehr allgemein, aber mir war situationsbedingt klar, was genau er von mir wollte und was ich zu tun hatte. In diesem Augenblick wäre es für Außenstehende auch kaum möglich gewesen, meine Umsetzung seiner verbalen Hilfestellung nachzuvollziehen. Denn meine äußerliche Haltung änderte sich nicht – unter meiner Haut spielte sich das eigentliche Geschehen ab.

Ein korrekt ausgebildeter Karate-Körper gleicht einem Bonbon. Die bunte Verpackung des Bonbons steht für Kata, Kata-Gesten, „Techniken“ usw. Sie sieht gut aus und erinnert einen an ein richtiges Bonbon. Sie ist letztlich aber wertlos, weil sie eben nur Verpackung ist. Mit dem Karate-Körper kann jede Handlung zu einer wirksamen Technik werden. Auf hohem Niveau wird jede noch so kleine, kaum mehr wahrnehmbare Bewegung technische Wirksamkeit auf einen angreifenden Trainingspartner übertragen.

Ich halte das für einen wichtigen Punkt. Er zeigt, wie verkehrt der moderne „Bunkai“-Ansatz tatsächlich ist bzw. in welche Sackgasse er führt (aus meiner Sicht). Der Bunkaiist vergeudet wertvolle Lebenszeit mit Bonbonpapier und verwechselt das Papier mit dem Bonbon. Bonbonpapier ohne Bonbon ist nur leere Hülle. Kata, Kata-Gesten, „Techniken“ usw. ohne Karate-Körper sind substanzlos.


Was ist nötig, um einen Karate-Körper auszubilden? Grundsätzlich ist ein Karate-Lehrer notwendig, um einen Karate-Körper (dem „Vorbild“ des Lehrers entsprechend) auszubilden. Außerdem ist das Üben mit Karate-Waffen wie Bō und Sai unabdingbar.


Wer kann sich einen Karate-Körper aneignen? Tatsächlich kann jeder einen Karate-Körper (im Sinne meines Karate-Lehrers) ausbilden. Aus eigener Erfahrung weiß ich aber, dass Personen, die noch nie mit Karate (oder einer anderen Kampfkunst) zu tun hatten, am einfachsten angeleitet werden können. Echte Anfänger wissen nicht, was Karate ist und wie Karate sein soll. Daher gehen sie ohne Vorurteile und eigene Meinung zum Karate in unser Training. Personen, die sich zehn, zwanzig oder mehr Jahre mühsam ein Karate (wie und woher auch immer) aneigneten, werden nicht dazu in der Lage sein. Denn sie „wissen“ ja schon, was die Uhr geschlagen hat. Falls diese Karateka in der Lage sind, ihr bisheriges Können (und Wissen) völlig in den Hintergrund zu schieben – es zu „vergessen“ – und einen langwierigen Prozess des Neulernens eingehen, dann besteht vielleicht eine Chance. Verständlicherweise möchte kaum jemand einen solch radikalen Schritt tun. Dennoch wäre er nötig, um zielorientiert und effektiv verbal und vor allem körperlich kommunizieren zu können.

© Henning Wittwer