„Karate-Körper“
ist ein Ausdruck, der immer wieder von meinem Karate-Lehrer, Harada Mitsusuke
Sensei, verwendet wird. Ich möchte hier – wie schon angekündigt – den Versuch
wagen, ihn zu erklären. Jede Sportart hat besondere Anforderungen an einen
Athleten. Trainiert der Athlet auf hohem Niveau, wird er im Rahmen dieser
Sportart sportliche Erfolge erzielen können. Wegen der besonderen Anforderungen
seiner Sportart entwickelt der Sportler bestimmte Muskeln stärker als
vielleicht andere. Auf diese Weise bildet er einen Körper aus, der den
Anforderungen seiner Sportart entspricht. Das ist ganz normal. Der Körper eines
Profischwimmers sieht anders aus als der Körper eines Profifußballers oder der
Körper eines Profilangstreckenläufers oder der Körper eines Profiboxers. Wird
Karate regelmäßig und systematisch ausgeübt, entwickelt sich mit der Zeit
ebenfalls ein Körper, der den spezifischen Anforderungen des Karate-Trainings
entspricht.
Karate ist aber nicht gleich Karate. Daher sind auch die spezifischen Anforderungen an das Karate-Training teilweise sehr unterschiedlich. Ich beziehe mich an dieser Stelle auf mein persönliches Karate-Training, das dem Unterricht meines Karate-Lehrers folgt. Deswegen ist auch der Begriff „Karate-Körper“ mit meinem persönlichen Karate-Training verknüpft. Beispielsweise stellt der Typus großer, muskulöser Mann als Karate-Ausbilder (für tolle Sachen wie Bunkai, Real-Street-Fight, Knockdown-Karate usw.) keinen Karate-Körper in meinem Sinn dar. In meinem Karate-Training muss auch eine kleine Person oder eine Frau die Fertigkeit erlangen, reale technische Wirksamkeit an Trainingspartnern erzeugen und sich selbst schützen zu können. Das meint Karate-Körper in meinem Sinn.
- die körperliche Erscheinung des Karateka nach langem, regelmäßigen Keiko
- ein körperlicher (und geistiger) Zustand, in den sich der Karateka versetzt
Im Keiko selbst
versuche ich einen Zustand zu erreichen, der meinem bisherigen Verständnis des
Karate-Körpers nahe kommt. Dabei muss das Skelett und die gesamte Muskulatur
einbezogen werden. Natürlich funktioniert das nicht ohne aktives Nachdenken
und Bewusst machen der Vorgänge, die sich unter meiner Haut abspielen. Also
gehört zum Karate-Körper auch „geistige“ Tätigkeit. Den Kopf „abschalten“ kann
ich in meinem Keiko folglich nicht. In
diesen Zustand möchte ich gelangen, um technische Wirksamkeit am
Trainingspartner zu erzielen. Leicht daher geschrieben, schwer in die Tat
umzusetzen. Ab einem bestimmten Stadium (jenseits der völlig grobschlächtigen
Anfängerzeit) handelt es sich beim Finden des Karate-Körpers um sehr subtile
Punkte. Ein Beispiel: bei einer bestimmten Partnerübung fragte ich mich,
weshalb mein mich angreifender Partner trotz meiner Anstrengungen und meiner
Selbsteinschätzung nach eigentlich guten Ausführung keine Reaktion sehen ließ.
Nach einer Weile erlöste mich mein Karate-Lehrer, indem er mich fragte, ob ich
die Kata Jion kenne. Bei mir machte es Klick, ich passte meinen Karate-Körper
an und mein Partner reagierte unmittelbar. „Jion“ klingt für Außenstehende sehr
allgemein, aber mir war situationsbedingt klar, was genau er von mir wollte und
was ich zu tun hatte. In diesem Augenblick wäre es für Außenstehende auch kaum
möglich gewesen, meine Umsetzung seiner verbalen Hilfestellung
nachzuvollziehen. Denn meine äußerliche Haltung änderte sich nicht – unter
meiner Haut spielte sich das eigentliche Geschehen ab.
Ein korrekt
ausgebildeter Karate-Körper gleicht einem Bonbon. Die bunte Verpackung des
Bonbons steht für Kata, Kata-Gesten, „Techniken“ usw. Sie sieht gut aus und
erinnert einen an ein richtiges Bonbon. Sie ist letztlich aber wertlos, weil sie
eben nur Verpackung ist. Mit dem Karate-Körper kann jede Handlung zu einer
wirksamen Technik werden. Auf hohem Niveau wird jede noch so kleine, kaum mehr
wahrnehmbare Bewegung technische Wirksamkeit auf einen angreifenden
Trainingspartner übertragen.
Ich halte das für
einen wichtigen Punkt. Er zeigt, wie verkehrt der moderne „Bunkai“-Ansatz
tatsächlich ist bzw. in welche Sackgasse er führt (aus meiner Sicht). Der
Bunkaiist vergeudet wertvolle Lebenszeit mit Bonbonpapier und verwechselt das
Papier mit dem Bonbon. Bonbonpapier ohne Bonbon ist nur leere Hülle. Kata,
Kata-Gesten, „Techniken“ usw. ohne Karate-Körper sind substanzlos.
Was ist nötig, um einen Karate-Körper auszubilden? Grundsätzlich ist ein Karate-Lehrer notwendig, um einen Karate-Körper (dem „Vorbild“ des Lehrers entsprechend) auszubilden. Außerdem ist das Üben mit Karate-Waffen wie Bō und Sai unabdingbar.
Wer kann sich einen
Karate-Körper aneignen? Tatsächlich kann jeder einen Karate-Körper (im Sinne
meines Karate-Lehrers) ausbilden. Aus eigener Erfahrung weiß ich aber, dass
Personen, die noch nie mit Karate (oder einer anderen Kampfkunst) zu tun
hatten, am einfachsten angeleitet werden können. Echte Anfänger wissen nicht,
was Karate ist und wie Karate sein soll. Daher gehen sie ohne Vorurteile und
eigene Meinung zum Karate in unser Training. Personen, die sich zehn, zwanzig
oder mehr Jahre mühsam ein Karate (wie und woher auch immer) aneigneten, werden
nicht dazu in der Lage sein. Denn sie „wissen“ ja schon, was die Uhr geschlagen
hat. Falls diese Karateka in der Lage sind, ihr bisheriges Können (und Wissen)
völlig in den Hintergrund zu schieben – es zu „vergessen“ – und einen langwierigen
Prozess des Neulernens eingehen, dann besteht vielleicht eine Chance.
Verständlicherweise möchte kaum jemand einen solch radikalen Schritt tun.
Dennoch wäre er nötig, um zielorientiert und effektiv verbal und vor allem
körperlich kommunizieren zu können.
© Henning Wittwer