Freitag, 18. November 2016

Neues Karate-Buch: Karate in Okinawa, Japan & Hawaiʻi 1935

Higaonna Kamesuke Sensei stammte aus Okinawa, war ein bedeutender Schüler von Motobu Chōki Sensei und einer der wirklich ersten Karate-Botschafter in Hawaiʻi. Das allein reichte, um meine Neugier zu wecken. Dazu kommt, dass er 1935 eine ausführliche Artikelreihe über die Ursprünge und die Entwicklung des Karate verfasste. Nachdem ich sie gelesen hatte, war mir klar, dass es sich um einen wertvollen Beitrag zum Verständnis des Karate im Allgemeinen handelt. Ich wollte ihn unbedingt deutschen Lesern zugänglich machen.

Zu den einzigartigen Informationen von Higaonna Senseis Text gehört eine, die die bisherigen Vorstellungen zur deutschen Karate-Geschichte betrifft. Zusätzlich stelle ich Higaonna Senseis Leben und Wirken mit Karate vor, liefere erklärende Anmerkungen zu seinem Text sowie einige seltene Fotos aus dieser Zeit.

Das Buch trägt den Titel „Higaonna Kamesuke über Karate in Okinawa, Japan & Hawaiʻi“ und kann direkt beim Verlag bestellt werden:

https://www.epubli.de/shop/buch/Higaonna-Kamesuke-über-Karate-in-Okinawa-Japan--Hawaiʻi-Henning-Wittwer-9783741863691/57455

© Henning Wittwer

Montag, 4. April 2016

Gedan-Barai: Stichpunkte zu Form und Funktion

Der Gedan-Barai bzw. der „Feger auf der unteren Stufe“ ist eine der absolut grundlegendsten Bewegungen im Karate-Dō Shōtōkan-Ryū. Erkennbar ist das an seinem Vorkommen in den Kata Taikyoku, Heian Shodan oder auch Ten no Kata. Mein Karate-Lehrer nennt ihn eine der drei (oder je nachdem vier) wichtigsten Techniken in seinem Karate.

Wie die äußere Form dieser Bewegung in etwa auszusehen hat, das weiß wohl jeder Neuling im Shōtōkan-Ryū nach kurzer Zeit. Klar, je nach Institution oder Übertragungslinie gibt es größere oder kleinere Abweichungen. Okuyama Tadao Sensei lehrte z. B. einen Gedan-Barai, bei dem die fegende Hand am Anfang nicht bis hoch zum Schulter-Hals-Bereich geführt wird. Aber ganz grob erkennt wahrscheinlich jeder Karateka einen Gedan-Barai. Eben diese äußere Form ist ein Grund für seine Wichtigkeit. Diese Form führt zum Funktionieren.

Wer das liest, denkt vielleicht sofort an „Bunkai“ oder an ulkige Bücher wie „101 Gedan-Barai“. Nein, mit „funktionieren“ meine ich etwas anderes.

Kase Taiji Sensei lehre ein Konzept, bei dem der Unterarmknochen wie eine Hiebwaffe eingesetzt wird. Er demonstrierte Gedan-Barai als scharf und hart in die Angriffsgliedmaße einschlagende (einschneidende) Technik. Und er ließ uns demgemäß üben, wieder und wieder. Ich liebte es. Ich liebte es, weil es funktionierte. Kase Senseis Ansatz war, dem Gegner mit dem ersten Kontakt klarzumachen, dass sein Angriff keine gute Idee war, dass sein Angriff ein Fehler war. Er selbst verkörperte diese Wirksamkeit noch als etwa 70-Jähriger Mann. Daran gibt es keinen Zweifel.

Dann stand ich meinem späteren Karate-Lehrer zum ersten Mal gegenüber. Während ich ihn angriff, machte ich mich auf Schmerzen im Unterarm gefasst – die kannte ich ja schon. Doch irgendetwas war anders an seinem Gedan-Barai. Darüber musste ich nachdenken, während ich mich vom Boden erhob. Und das, was anders war, wollte ich lernen. Tatsächlich verdrängte ich die mir bis dahin bekannten Karate-Ansätze (was notwendig war) und begann mich ausschließlich mit diesem für mich neuen Ansatz zu befassen.

Wer sich selbst oder die gegnerische Angriffsgliedmaße mit seinem Gedan-Barai „blockiert“, kann nicht „fegen“. Rein sprachlich ist das schon ein Unterschied. Und rein technisch bewirkt das einen großen Unterschied. Am Blockieren ist je nach Situation nichts verkehrt. Aber das Ergebnis ist beim Fegen ein anderes.

Die technische Form des Gedan-Barai nötigt mich dazu, den Arm und die Schulter nach unten zu bewegen. Und genau das ist ein Knackpunkt, wenn es um das Funktionieren des Gedan-Barai gehen soll. Diese Art von Bewegungsgefühl kann dann auf alle anderen Bewegungen übertragen werden – vorausgesetzt, der Karateka bekam es wirklich vermittelt.

Während die äußere Form des Gedan-Barai in der Soloübung (Kata) eher gleichbleibend und vollständig ausgeführt wird, ist sie in der Partnerübung (Kumite) häufig wechselnd und unvollständig. Doch bestimmte äußere Förmlichkeiten bleiben auch im Kumite bestehen. Fielen sie weg, dann würde der Gedan-Barai an Wirksamkeit verlieren oder gar nicht mehr funktionieren.

Zusätzlich zur äußeren Form sind für das Funktionieren des Gedan-Barai selbstverständlich noch viele andere Faktoren von Bedeutung, z. B. sehr gutes Timing (und kein „Fake-Timing“), Abstandsgefühl oder auch ein entschlossener Angriff. Aber auf diese Faktoren möchte ich an anderer Stelle zu sprechen kommen …

© Henning Wittwer

Dienstag, 15. März 2016

Shōtōkan Stock 2016 in Niesky – ein Rückblick

Eine überfüllte Turnhalle, eine nahezu einheitlich auf donnernde Kommandos reagierende Menschenmasse und das großartige Gefühl, einen echten Karate-Superstar zu treffen, – ja, das gab es am Wochenende vom 5. und 6. März 2016 bestimmt andernorts in Deutschland. In Niesky trafen sich dagegen eine Handvoll lernwillige Karateka, um sich erneut oder zum ersten Mal intensiv mit dem Thema Stock im Shōtōkan-Ryū auseinanderzusetzen.


Einführend ging ich kurz auf die Lehre und geschichtliche Situation des Stocks ( bzw. Kon) im Shōtōkan-Ryū ein. Neulinge erlernten Schritt für Schritt die Kata Shūji no Kon, und Fortgeschrittene erhielten vertiefende Hinweise zu deren Übung.


Neben diesem Solotraining vermittelte ich viele Partnerübungen mit dem Stock (Kumibō), die mit Shūji no Kon verknüpft werden können.

Dabei stellte ich für die fortgeschrittenen Teilnehmer einige Henka vor. (Zum Begriff Henka im Shōtōkan-Ryū siehe „Shōtōkan Band II“, S. 241.)

Praktisch ließ ich die Teilnehmer zudem den Zusammenhang von „leerer Hand“ und Stock anhand eines einleuchtenden Beispiels trainieren und verstehen. Wie „leere Hand“ und Stock methodisch sinnvoll und sich gegenseitig ergänzend innerhalb des Shōtōkan-Ryū ausgeübt werden können, skizzierte ich zuvor.

Auch ein paar Unterschiede zwischen dem Umgang mit dem Stock im Karate-Dō Shōtōkan-Ryū und dem in anderen Richtungen des Karate oder des okinawanischen Kobudō brachte ich den Teilnehmern näher. Wissen über diese Unterschiede hilft dabei, weniger zweckmäßige Herangehensweisen besser zu erkennen und kritisch zu hinterfragen.

Mich freute sehr, dass wirklich alle konzentriert bei der Sache waren und den Lernstoff fleißig umsetzten.


Danke nach Mülheim, Dessau, Leipzig, Freiberg und natürlich Niesky!

Anmerkung: Am 5. März 2016 verstarb Takagi Jōtarō Sensei. Seinem Einsatz haben wir heute das Wissen um den Shōtōkan-Stock zu verdanken. Ohne ihn hätte es auch unseren Lehrgang in Niesky nicht gegeben.

© Henning Wittwer

Freitag, 22. Januar 2016

Nur eine Soloübung mit dem Holzsäbel

Bereits bei meinen ersten Begegnungen mit meinem Karate-Lehrer bemerkte ich seine Affinität zum Holzsäbel (Bokutō). Sehr oft beobachtete ich, wie er vor dem Training zum Bokutō griff, um damit ein paar simple Übungen auszuführen. Besonders eine von ihnen wirkte wirklich seltsam. Mit der Zeit lernte ich sie und erhielt von ihm viele wichtige Hinweise zur richtigen und zielgerichteten Ausführung dieser wirklich eigenartig anmutenden Übung.

Er lernte diese Übung vom verstorbenen Okuyama Tadao Sensei, weswegen ich sie einfach „Okuyama-Übung“ nenne (neben „Bokutō-Übung 2“). Aus geschichtlicher Sicht ist diese Holzsäbelübung also eine jüngere Ergänzung in meiner Karate-Linie. Sie stammt gewiss nicht von Funakoshi Gichin Sensei. Mein Karate-Lehrer erzählte mir, dass das Bokutō von Okuyama Sensei am Griff regelrecht schwarze Handabdrücke aufwies, die ein Zeichen für Okuyama Senseis starke Greifkraft sind.

Für Außenstehende tritt beim Betrachten der „Okuyama-Übung“ ein Verständnisproblem auf. Denn sie lehrt einem nicht, einen Widersacher mit einem japanischen Säbel zu filetieren. Sie ist kein religiöses Ritual, keine Show, keine geheime Technik, und sie kann nicht bunkaiisiert werden. Ich als Übender stehe eigentlich nur in der Gegend rum und halte ein Bokutō senkrecht in die Luft. Das Bokutō bewegt sich dabei ein wenig. Und das war es schon, also von außen betrachtet.

Die eigentliche Arbeit findet für den Betrachter unsichtbar unter meiner Haut statt. Ziel der „Okuyama-Übung“ ist der Aufbau und die Verfeinerung meines Karate-Körpers. Tatsächlich ähnelt sie als Soloübung den herkömmlichen Kata des Karate. Die beiden auffälligen Unterschiede zu den Kata sind:

  1. Ich halte einen Holzsäbel.
  2. Ich bewege mich nicht im Raum von A nach B.

Das Bokutō erhöht die Wirkung der Übung, und durch die fehlenden Bewegungen kann ich mich intensiver auf all die subtilen Punkte meiner Körperstruktur und –mechanik konzentrieren. Trotz der äußerlichen Schlichtheit der Übung (oder gerade ihretwegen) gibt es eine Vielzahl größerer und kleinerer Punkte, die ich theoretisch kennen und dann praktisch umsetzen muss. Schritt für Schritt wächst die „Okuyama-Übung“ sozusagen zu einer immer anspruchsvolleren und tiefgründigeren Trainingsform. Ohne ständige Anleitung ist es allerdings aussichtslos, echten Nutzen aus ihr zu ziehen. Als ich vor wenigen Jahren dachte, ich verstünde sie schon ansatzweise, konnte ich nicht wissen, was ich später noch hinzulernen würde. Und dabei handelt es sich doch „nur“ um eine simple Soloübung mit dem Holzsäbel …

In ihr bündeln sich mehrere Elemente anderer notwendiger Soloübungen meines Karate. Dadurch ermöglicht sie ab einem bestimmten Verständnisniveau (ich meine theoretisches und vor allem körperliches Verständnis) in kürzerer Übungszeit einen mit vielen verschiedenen Übungen vergleichbaren Nutzen. Deswegen werden die anderen Übungen natürlich nicht hinfällig. Tatsächlich wirkt sich der Nutzen der „Okuyama-Übung“ direkt auf alle anderen Solo- und Partnerübungen aus.

Jedenfalls ist die „Okuyama-Übung“ ein fester Bestandteil des Lehrgebäudes meines Karate-Lehrers und damit meines Trainingsalltags. Sie ist also kein überflüssiges „fünftes Rad am Wagen“ meines Karate. Sie ist mit anderen Übungsformen vernetzt und ist ohne die anderen Übungsformen nur bedingt sinnvoll. Über die Bedeutung und verschiedene Aspekte eines in sich schlüssigen Karate-Lehrgebäudes schreibe ich ausführlich in meinem Buch „Karate. Kampfkunst. Hoplologie“.

© Henning Wittwer

Montag, 11. Januar 2016