Einer der entscheidenden Faktoren für ein erfolgreiches Training im Budō-Karate ist ein guter Trainingspartner. Besser als ein guter Trainingspartner sind ein paar gute Trainingspartner. Häufig scheinen es Karateka zu lieben, von „Schülern“ zu sprechen: „Ich habe so und so viele Schüler“, „Heute waren meine Schüler aber faul.“, „Heute waren meine Schüler fleißig.“ „Schüler“ zu haben ist super fürs Ego, fürs Prestige, glaube ich. Denn so erhebt man sich selbst über eine Gruppe von Menschen – sowohl intern als auch nach außen.
Ich persönlich möchte keine Schüler, ich möchte Trainingspartner. Ich brauche Trainingspartner.
Diesen Gedanken übernahm ich von meinem Karate-Lehrer. Im Budō-Karate ist Masse nicht gleich Klasse. Und um meine eigenen technischen Fertigkeiten (Waza) qualitativ anheben zu können, benötige ich echte Trainingspartner. Besser ausgedrückt: Ich bin abhängig von ihnen. Umgekehrt sind meine Trainingspartner abhängig von mir. Auch meine Trainingspartner benötigen ihrerseits einen guten Trainingspartner, um ihre technische Fertigkeit zu verbessern.
Solo-Kata waren, sind und bleiben die unbestreitbar entscheidende Grundlage, nicht aber das Ziel meines Karate. Mein technisches Ziel im Karate kann ich nur mit Hilfe eines guten Trainingspartners erreichen. Allein funktioniert das nicht. Dies sind einige der Gründe:
Erstens kann mein Trainingspartner – auf eine eher grundlegende Weise – mal hier schieben, mal da ziehen oder je nachdem mal drücken, halten, heben, um meinen „Karate-Körper“ einstellen zu helfen. Klingt banal, ist aber entscheidend wichtig.
Zweitens ist er unabdingbar, um Dinge, wie Timing, Rhythmus, Abstand usw. zu studieren. Diese werden nicht durch die Übung der Solo-Kata trainiert. Sie sind auch nicht wirklich in der Solo-Kata enthalten. Allein mit Hilfe eines Trainingspartners kann ich sie lernen.
Drittens ist sein Feedback für mich wesentlich, um Anpassungen und Veränderungen in die korrekte Richtung hin zum Trainingsziel vornehmen zu können.
Viertens brauche ich den Angriff eines Trainingspartners, nicht den eines Schülers, um echte Fortschritte zu machen. Ein Schüler neigt nämlich dazu, wie ein Schüler anzugreifen. Durch etwas Nachdenken und Beobachtung sollte klar werden, wie sich der Angriff eines Schülers von dem eines Trainingspartners unterscheidet. Dies beinhaltet u. a. etwas, das ich „Fake-Timing“ nenne und später mal besprechen möchte.
Bei alledem ist eine Frage noch unbeantwortet. Wo bekomme ich echte Trainingspartner her? Eine Erkenntnis aus einigen Jahren Karate-Übung ist, dass gute Trainingspartner nicht vom Himmel fallen. Sie sind im Gegenteil rar gesät.
Auf jeden Fall ist für das Zustandekommen einer Trainingspartnerschaft gegenseitiges Vertrauen unabdingbar. Schließlich erfordert das gemeinsam angesteuerte Trainingsziel einen hohen zeitlichen Aufwand, und Zeitverschwendung mit Möchtegernen ist alles andere als produktiv. Hinzu kommt eine immanente Gefahr für Körper (und Geist), die fortgeschrittene Übungsformen (Kumite) mit sich bringen. Eine Person, von der ich weiß, dass sie gerne mal normale Regeln „in ihrem Sinne“ auslegt oder gar lügt und betrügt, möchte ich selbstverständlich nicht in meinem Keiko haben. Denn dieses Vorwissen verdeutlicht, dass eine solche Person als potentieller Trainingspartner ebenso handeln würde und dass somit im schlimmsten Fall meine Gesundheit und die meiner Trainingspartner auf dem Spiel stünden.
Folglich ist eine Vorauswahl unvermeidlich. Die Geschichte des Karate zeigt übrigens, dass Karate-Adepten im neunzehnten Jahrhundert ganz ähnlich dachten …
© Henning Wittwer