Ich denke, es ist o.k. „Karate-Training“ zu sagen. Besser ist, vor allem wenn ich mich mit einem Japaner unterhalte, den Begriff „Keiko“ zu gebrauchen. Wenn ich zu einem Deutschen sage, daß ich jetzt ins Keiko gehe, wird er wohl nicht verstehen, was ich meine. Und wenn ich „Keiko“ übersetze, entsteht wahrscheinlich nicht weniger Verwirrung. „Keiko“ meint soviel wie „Altes bedenken“. Das hört sich nicht sehr schweißtreibend und spektakulär an, oder?
Beim Karate-Training bedenke ich also etwas Altes. Konkret handelt es sich dabei um die technischen Vorstellungen alter, meist schon verstorbener Karate-Lehrer. Um die technischen Vorstellungen dieser alten Sensei bedenken zu können, brauche ich jemanden, der sie mir zeigt – einen Karate-Lehrer, der von ein, zwei dieser alten, verstorbenen Sensei lernte.
Also ist für richtiges Keiko schon mal eine Übertragungslinie von einem alten verstorbenen Sensei, zu einem weiteren Sensei (der von dem ersten lernte), zum nächsten Sensei (der vom zweiten lernte) zu mir selbst nötig. So eine Übertragungslinie kann kürzer oder länger sein, je nachdem...
Dazu ist es sehr wichtig, die überlieferten Schriften der japanischen bzw. okinawanischen Sensei zu studieren, die vor mir in meiner Übertragungslinie stehen. Dadurch verbinde ich Theorie und Praxis. In meinem eigenen Fall war es sogar irgendwie umgekehrt – ich beschäftigte mich mit den alten Schriften und kam durch dieses Studium weg vom Sport-Karate, hin zu meinem Karate-Lehrer. Doch das bloß nebenbei.
Keiko, das auch Keiko genannt werden kann, ist damit eine ziemlich festgesetzte Sache. Keiko bewegt sich innerhalb eines bestimmten Rahmens. Dieser Rahmen ist durch die aktive Lehre meines Sensei und eben die erhaltenen Lehrschriften festgelegt. Ich strebe nach demselben technischen Ziel, nach dem meine Vorgänger strebten. Ich will dasselbe technische Ziel erreichen, das meine Vorgänger erreichten.
Im Keiko gibt es also keinen Grund, keinen Platz für Aktivitäten, die nichts mit dem Karate meiner Vorgänger zu tun haben. Keiko hat nichts mit planlosem, ziellosem Herumgerenne zu tun. Keiko ist nicht mal Hü, mal Hott.
Die technische Fertigkeit meines Karate-Lehrers ist das große Ziel meines Keiko, meines Trainings. Dieses Ziel kann nicht mit einem Sprung erreicht werden. Er vergleicht das mit der Entdeckung Amerikas durch die Wikinger. Mit ihren kleinen Booten wären sie nicht in der Lage gewesen, den Atlantik direkt zu überqueren. Stattdessen tasteten sie sich immer von einer kleinen Insel oder Eisscholle zur nächsten vor. Schließlich erreichten sie den neuen Kontinent. Der historische Gehalt dieser Geschichte ist hierbei egal. Die Idee ist wichtig. Das große Ziel vor Augen, setze ich mir immer ein kleines Ziel. Wenn das erreicht ist, folgt das nächste kleine Ziel.
Im richtigen Keiko spüre ich das gleiche Brennen im selben Muskel, das mein Karate-Lehrer spürt und das vor ihm seine Vorgänger spürten; ich muß dieselben Probleme lösen und in mir kommen wahrscheinlich ähnliche Zweifel auf. Und genau dasselbe gilt für meine Trainingspartner.
Dies sind die ersten Punkte, die echtes Karate-Training, Keiko also, ausmachen.
© Henning Wittwer