Nun weiß ich das und trainiere dementsprechend. Ich weiß aber auch, dass Jitte zu den prominenten Opfern von Überinterpretation gehört. Leute, die sich Karate eher selbst zusammenreimen, und es nie richtig (also auch langfristig) von einem – ernsthaft! – guten Karate-Lehrer lernten, sind meist die Täter.
Mein persönlicher Spitzenreiter einer solchen Überinterpretation im Karate ist die Aussage, dass Jitte eine Kata sei, die „früher“ oder „ursprünglich“ mit einem Kampfstock ausgeführt wurde. Mit anderen Worten soll (!) Jitte also den Umgang mit dem Stock gelehrt haben. Dass die Überinterpreten keine einzige Quelle von „früher“ vorweisen können, in der diese „ursprüngliche“ Ausführung mit Stock belegt wird, scheint niemanden zu stören.
Einige „Experten“ teilten ihre überinterpretierten „Stock-Jitte“ mit dem Internet (Foto und Film). Erheiternd finde ich jede einzelne davon, die ich bislang sah. Selbstverständlich ist Jitte keine Stock-Kata, der der Stock abhandenkam. Zwei allgemeine Probleme, die damit einhergehen, möchte ich kurz benennen:
- Shōtōkan-Ryū verfügt bereits über eigene Kata mit dem Stock, d. h. es besteht gar keine Notwendigkeit, eine dazu zu basteln.
- Egami Shigeru Sensei empfahl, die unbewaffneten Kata mit der Vorstellung einen Stock zu halten oder tatsächlich mit einem Stock in den Händen auszuführen. Seine Empfehlung bezieht sich auf alle Kata, besagt aber nicht, dass der Übende dadurch den Umgang mit dem Stock erlernt.
© Henning Wittwer