Dienstag, 29. März 2011

Leere Hände und Stock im orthodoxen Shōtōkan-Ryū

"Im Shōtōkan Karate-Dō sind die Kunst des Stocks und Karate-Dō die Außen- und Innenseite eines Körpers."  – Vor Jahren fand ich diese Aussage in der Werbung für ein japanisches Dōjō. Technischer Kopf der dazugehörigen Übungsstätte war ein älterer Lehrmeister, dessen Übertragungslinie direkt zurück ins historische Shōtōkan (1938-1945) führt. Freier bedeutet sie:

Stock und leere Hand gehören im Shōtōkan-Ryū zusammen wie Pech und Schwefel. Sie sind Teile ein und derselben Sache.

Auch mein eigener Karate-Lehrer, Harada Mitsusuke Sensei, betont immer wieder, daß „unsere Tradition vom kommt“. Damit meint er, daß das Karate aus seiner Übertragungslinie, die unmittelbar dem historischen Shōtōkan entstammt, auf der Kunst des Stockes beruht, die Kunst des Stockes als technische Basis hat.

Erst einmal hört sich das nicht wirklich weltbewegend an. Doch bei näherer Betrachtung – bei viel und bewußtem Training – wird schnell klar, welche Bedeutung beide Aussagen aus technischer wie aus historischer Sicht haben. Während meiner ersten Karate-Jahre las ich ein englisches Interview mit Nakayama Masatoshi Sensei, dem technischen Leiter der JKA. Darin erklärte er überzeugt, daß Training mit Waffen, wie dem Stock, nichts mit echtem Budō (also dem, was er als "Budō" verkaufte) zu tun hätte. Natürlich hinterließ diese Aussage einen mehr oder weniger prägenden Eindruck bei mir, der sich erst später, dafür aber umso grundlegender änderte.

Das Karate aus dem historischen Shōtōkan hatte nicht die gleiche Zielsetzung wie das von der JKA vertretene Karate. Es gibt enorme technische Unterschiede. Und ein Unterschied stellt eben das Stocktraining innerhalb des Lehrplans dar, d.h. es ist kein exotischer Zusatz, sondern normaler Bestandteil, ja technische Grundlage.


Aus technischer Sicht gibt es viele Punkte, die eben dies belegen. Ein simples Beispiel ist die Tatsache, daß im Karate-Dō Shōtōkan-Ryū die Haltung Hanmi bevorzugt wird. Niemand positioniert sich mit Stock oder Speer in einer frontalen Haltung (also zumindest niemand, der Ahnung hat). Darauf aufbauend nehme ich mit „leeren Händen“ häufig ebenso Hanmi an.

Hinzu kommt, daß sich viele technische Punkte mit Hilfe eines (oder Kon) sehr viel einfacher und – vom körperlichen Standpunkt aus – verständlicher aneignen lassen. Er ist ein phantastisches Hilfsmittel zum Aufbau des "Karate-Körpers".

Wie sieht nun die Übung mit dem Stock im Karate-Dō Shōkan-Ryū aus? Ganz am Anfang stellte ich hier im Blog eine Liste mit den von mir trainierten Kata vor (http://gibukai.blogspot.com/2010/09/meine-kata-liste.html). Darin finden sich auch vier Stock-Kata. Und genau diese Stock-Kata stellen die grundlegenden Lehr- und Übungsmittel dar. Ihre Namen lauten:
  • Shūji no Kon
  • Sakugawa no Kon
  • Matsukaze no Kon
  • Shirotaru no Kon
Shūji no Kon entspricht vom Niveau her den Kihon-Gata Heian und Tekki, d.h. sie sollte am Anfang gelernt werden. Dann werden diese Stock-Kata wie all die anderen Kata ganz „normal“ neben anderen Übungsformen im Training genutzt.

Obendrein empfahl Egami Shigeru Sensei verschiedene Bō-Kuguri, allgemeinere Übungen mit dem Stock, die dazu dienen, den Körper geschmeidiger zu machen. Ein geschmeidiger Körper ist ganz klar eine Bedingung für wirksame Techniken im orthodoxen Shōtōkan-Ryū.

Um nun eine theoretische Ausgangsbasis zu schaffen, erläuterte ich ein paar Hintergründe zu diesem Thema in meinem Buch und werde demnächst weiteres Material zum Nachlesen liefern. Zur Verbindung von Theorie und Praxis begann ich, Lehrgänge zum Stock im Shōtōkan zu geben, wie diesen hier:

http://gibukai.blogspot.com/2011/01/shotokan-stock-lehrgang-am-16-17-april.html

In Vorbereitung des Lehrgangs schrieb ich diesen kleinen Beitrag.

© Henning Wittwer

Freitag, 11. März 2011

Harada Mitsusuke Sensei – Bilder und Einsichten von 1963

Lange bevor ich selbst geboren wurde, suchten spanische Reporter Paris auf, um sich ein Bild vom in Europa noch relativ unbekannten Karate zu machen. Dabei wurden sie Zeuge einer Trainingseinheit, die Harada Mitsusuke Sensei leitete.

Sie charakterisierten Karate als „wissenschaftliche“ Form des Kampfes, die sich auch für Menschen eignet, die nicht besonders schwer sind und die nicht auf schiere Kraft bauen. Karate biete schließlich eine echte Möglichkeit der menschlichen Entwicklung.

Für mich ist es natürlich aufregend, Harada Sensei Mitte Dreißig in Aktion zu sehen. Allgemein stellt dieser Artikel ganz klar auch ein interessantes historisches Dokument des Karate in Europa dar. Klicken Sie bitte auf die Links unten, um die fünf Seiten zu betrachten:

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© Henning Wittwer

Samstag, 5. März 2011

Die berühmten 3 K: Kihon, Kata & Kumite

Wenn bestimmte Gedanken nur oft genug wiederholt werden, dann werden sie zu einer Art Norm. In Karate-Kreisen gibt es ebenfalls solche Normen, die eigentlich nur akzeptiert werden, weil sie fast immer und überall nachgeplappert werden. Sie können die Geschichte, Lehre oder z.B. auch die Trainingsmethode betreffen.

Im Umfeld des JKA-Shōtōkan (eigentlich ist die Sache komplexer) gibt es eine heilige Trainingsnorm, die immer und immer wieder beschworen wird – die berühmten 3 K: Kihon, Kata und Kumite.

Jeder, der sich mit der Geschichte der Kampfkunst Ryūkyūs auseinandersetzt, wird früher oder später merken, daß sich da irgendwie ein K dazumogelte. Oder anders gesagt, bei den 3 K ist ein K zuviel.

Kihon ist dieses K, das sich hinzuschlich. Unter Kihon wird meist dieses stoische Wiederholen von Einzelgesten oder Kombinationen, entweder auf der Stelle oder in der Halle auf- und abmarschierend verstanden, wobei eine Person brüllend Kommandos erteilt: „Ichi! – Ni! – San!“ Und genau darauf beziehe ich mich hier. Kihon ist tatsächlich nichts anderes als Training für eine bessere Kata-Aufführung. Kihon soll die Kata-Vorführung „kräftiger“, effektvoller, zackiger, kurzum „besser“ machen. Aber so war das nicht vorgesehen mit der Kata:

Kata war und ist die eigentliche Grundlage (auf Japanisch: „Kihon“) des Karate!

Was bedeutet das für mein Training? Nun, ich trainiere Kata, um diese dann gemeinsam mit Partnern anwenden zu lernen, was Kumite genannt wird (und bestimmt nichts mit der heute populären Praxis des „Bunkai“ zu tun hat). Eigentlich ist es doch ganz einfach: Kata = Grundlage; Kumite = Anwendung der Grundlagen.

Dieses dritte K ist für mich also belanglos, weil ich Kata eben nicht für Wettkampfschauvorführungen o.ä. trainiere.

© Henning Wittwer