Donnerstag, 5. Mai 2011

Karate und Ch’i-Kung

Hier möchte ich kurz zeigen, welchen Nutzen Ch’i-Kung (oder in einer anderen Umschrift Qì-Gōng) für das Training im orthodoxen Karate-Dō Shōtōkan-Ryū hat – nämlich keinen!

Auf meiner Suche nach gehaltvollerem Karate kam ich nicht umhin, mich mit chinesischem Ch’i-Kung auseinanderzusetzen. Gerade seit Anfang der 1990er Jahre schwappte es als Modewelle ins Karate. Weil es seit da als „unabdingbar“ für „echtes“ Karate beschrieben oder vermarktet wurde und künstliche historische Zusammenhänge vorgestellt wurden, fing ich an, mich aktiv damit auseinanderzusetzen.

1998 konnte ich dann bei Aoki Osamu Sensei, einem Vertreter einer japanischen Version des Ch’i-Kung (jap.: Kikō), trainieren. Er ist nicht nur ein hervorragender Kikō-Lehrer, sondern gleichzeitig ein Ausbilder aus den Reihen des JKA-Shōtōkan. In seinen Kikō-Trainings verwies er immer wieder mal auf seine Karate-Praxis.

Jedenfalls ging er – nach dem Training – freundlicherweise auch auf meine Fragen ein. Da ich in seinen Kikō-Trainings eine gewisse Ähnlichkeit zu Ideen von Egami Shigeru Sensei (die ich zu diesem Zeitpunkt nur theoretisch kannte) auszumachen glaubte, sprach ich ihn darauf an. Kurz gesagt, lautete sein Fazit:

„Was Egami Sensei macht, ist Budō. Wir machen mehr Sport.“

Seine ehrliche Antwort beeindruckte mich. (Und sie ließ mich weitersuchen…)

Jahre später kam mein Karate-Lehrer, Harada Mitsusuke Sensei, auf das Thema Kikō (Ch’i-Kung) zu sprechen. Dabei erwähnte er, daß er davon ausgeht, daß Kikō tatsächlich medizinisch wirksam ist und einen derartigen Nutzen hat. Doch daraufhin wurde er sehr ernst und erklärte:

„Herr XY verband Kikō mit Karate. Aber das hat nichts mit dem Shōtōkai und Herrn Egami zu tun! Es sind zwei verschiedene Dinge.“

Dazu sollte ich noch erwähnen, daß Harada Sensei direkt von Egami Sensei unterrichtet wurde.

Hier liegen also die Aussagen zweier echter Fachmänner vor, die beide aus Sicht der Praxis besagen, daß Kikō / Ch’i-Kung / Qì-Gōng nichts mit dem Karate aus der Shōtōkan-Strömung zu tun hat.

Meiner Meinung nach haben Personen, die zusätzlich zum Karate mit der Übung einer Richtung des Ch’i-Kung beginnen, das starke Bedürfnis, eine Lücke zu schließen, die sie in ihrem Karate-Training spüren. Sie wissen nicht, was und wie genau sie trainieren sollen, um Fortschritte zu erzielen, oder weshalb sie überhaupt trainieren. Zudem benötigen sie unter Umständen „Zusatzangebote“, um sich und ihr Karate besser vermarkten und „mehr Abwechslung“ schaffen zu können.

Andersherum sollte sich jeder Karate-Anhänger die Frage beantworten, wieviel Zeit ihm für sein Karate-Training zur Verfügung steht. Unter der Voraussetzung, daß ich weiß, was und wie ich zu trainieren habe, verbessert jede Minute Karate-Training mein Karate; jede Minute Ch’i-Kung mein Ch’i-Kung (aber eben nicht mein Karate). Jede praktisch oder theoretisch für Ch’i-Kung aufgebrachte Minute geht meinem Karate-Training verloren…

© Henning Wittwer