Sonntag, 24. Oktober 2010

Nage-Waza: Die Wurftechniken im Karate

Wer ein Lehrbuch von Funakoshi Gichin Sensei liest, der kennt sie, die Wurftechniken seines Karate. Insgesamt stellt er elf Nage-Waza vor. Nur bei sehr wenigen japanischen Karate-Lehrern lernte ich selbst ausführlicher Wurftechniken. Noch weniger lehren aktiv die elf Würfe von Funakoshi Sensei. Dafür gibt es zwei Hauptgründe, denke ich.

Einmal sind Wurftechniken nicht das Hauptziel des Karate-Trainings. Jede Kampfkunst hat ihre Spezialität. Würfe bilden nicht das Fundament des Karate. Schlagende und vor allem stoßende Techniken – egal mit welcher Körperwaffe – stellen den technischen Ausgangspunkt im Karate dar. Deshalb kennzeichnet Funakoshi Sensei sein Karate als „harte“ Kampfkunst. „Hart“ ist ein Wortspiel, das einen Gegensatz zum Jū-Jutsu verdeutlichen soll. In vielen Strömungen des Jū-Jutsu bilden „weiche“ Techniken, wie eben Würfe, den Schwerpunkt des Trainings.

Jedenfalls heißt das auf die Praxis bezogen, daß ich mich zuerst auf den Kern der von mir gewählten Kampfkunst konzentriere. Und für den ist viel, sehr viel Training erforderlich. Ein aufmerksamer und verantwortungsbewußter Karate-Lehrer wird dafür sorgen, daß genau dieser Kern gepflegt und verbessert wird. Wenn mein Tsuki schlecht ist, wird er mir helfen wollen, meinen Tsuki zu verbessern.

Der zweite Grund ist historisch gewachsen. Er hat mit der oft beklagten „Versportlichung“ des Karate zu tun. Wettkampfsport ist eine Spezialisierung. D.h. es werden nur zweckdienliche Dinge trainiert. Alles, was dem sportlichen Leitmotiv nicht entspricht, bleibt unbeachtet. Und das ist auch folgerichtig!

Auch im Sport-Karate gibt es vereinzelt Wurftechniken, wie den weithin geübten Ashi-Barai. Aber eine Vielzahl der im Karate gelehrten Würfe taugt nicht so richtig für ein sportliches Format. Dadurch wurden und werden sie seltener trainiert. Das führte wiederum zum Vergessen dieser Nage-Waza.


Nun haben die im Karate-Dō Shōtōkan-Ryū gelehrten Nage-Waza ein paar Eigenarten:
  • Funakoshi Sensei gab ihnen manchmal nüchterne, häufiger blumige Namen. Bei diesen Namen muß beachtet werden, daß sie im Shōtōkan-Ryū für je eine bestimmte Technik stehen. Dieselbe Technik kann in einer anderen Kampfkunst einen ganz anderen Namen tragen. Oder es gibt in einer anderen Kampfkunst dieselbe Bezeichnung, aber hinter ihr verbirgt sich eine völlig andere Technik.
  • Er klassifizierte die einzelnen Würfe nicht, wie es beispielsweise im Kōdōkan Jūdō der Fall ist.
  • Gewisse Wurftechniken werden traditionell mit einer bestimmten Kata in Verbindung gebracht, wie z.B. Tekki Shodan oder Bassai.

  • Dem eigentlichen Wurf geht fast immer ein schlagender oder stoßender Konter voraus.

  • Jede Nage-Waza soll als Konter begriffen werden. Und als grundlegender Angriff wird ein Tsuki angenommen.

  • Schließlich soll der Angriff selbst genutzt werden, um den eigenen Konter – die Wurftechnik – wirksamer zu machen.
Mit diesen Gedanken trainiere ich die Nage-Waza zusammen mit meinen Trainingspartnern. D.h. wir trainieren sie, aber sie stehen nicht im Mittelpunkt. Es ist nicht sinnvoll, Wurftechniken mit Anfängern trainieren zu wollen, die über eine schwache technische Basis verfügen. Und je seltener jemand trainieren kann, desto weniger sollte er sich um Dinge wie eben die Nage-Waza kümmern.

Im Grunde beschäftige ich mich mit eben den elf Wurftechniken, die Funakoshi Sensei lehrte. Dazu kommen ein paar Würfe, die traditionell mit der ein oder anderen Kata, z.B. Enpi, in Beziehung gebracht werden.

Nage-Waza sind nicht der Hauptinhalt des Shōtōkan-Ryū, aber sie runden Karate als Kampfkunst ab.

© Henning Wittwer