Dienstag, 11. Januar 2011

Modewellen

Durch die Welt der Kampfkunst und des Kampfsports rauschen in regelmäßigen Abständen Modewellen. Einige sind kleiner, andere sind größer, ganz wenige entwickeln sich zu regelrechten Monsterwellen. Diese Erscheinung ist nicht neu; doch – rein vom Gefühl her – wälzen sie sich in immer kürzeren Abständen über uns.

Allgemein war in Deutschland vor Jahrzehnten etwas, das „Jiu-Jitsu“ genannt wurde, der letzte Schrei. Diesem folgte dann Jūdō. Später war Karate, mit seinen geheimnisvollen und selbstverständlich „extrem tödlichen Handkantenschlägen“, der Renner. Bald darauf mußte ein Kampfkünstler, der etwas auf sich hielt, zum Ninja ausgebildet werden – „seriös“ ging das gewiß nur im eingetragenen Verein...

Solche Modewellen ergossen sich ebenfalls über die Karate-Welt. Tatsächlich tun sie das noch immer.

Am Anfang war das Bild des Karate-Treibenden in Deutschland vor allem das einer „harten Kampfmaschine“ – und zwar solange, bis die damaligen japanischen Karate-Pioniere den eigentlichen Kurs vorgaben: Karate ist ein Wettkampfsport, so richtig mit regionalen, nationalen und globalen Meisterschaften. Super! Der Karateka konnte Weltmeister werden!

Bald darauf kam die Philosophenwelle. Für Leute, die sich von ihr mitreißen ließen, war Karate weder blutiges Gemetzel, noch profaner Sport. Nein, Karate ist so wie bei dem Pseudochinesenmönch in dieser TV-Serie, „Kung Fu“, so mit Zen-Buddhismus, Taoismus und all den weisen Sprüchen, Weg zur Erleuchtung und nebenbei noch die „Bösen“ vermöbeln – natürlich so friedvoll wie's geht...

Diese wiederum löste die Flutwelle des „traditionellen Karate“ aus. Dabei wurde der Begriff „Tradition“ von den Möchtegernexperten derart verdreht, daß heute kaum noch einer erklären kann, was denn Tradition im Karate sein soll. Eigentlich ist es ganz einfach: Karate, das von einem Lehrmeister (oder mehreren) zum nächsten tradiert, überliefert wurde, ist „traditionelles Karate“ im Wortsinn. Leider standen unsere Möchtegernexperten nicht wirklich (bestenfalls sporadisch)  in solch einer Tradition. Daher wurde einfach alles, was nicht an Wettkämpfen teilnimmt, als „traditionelles Karate“ ausgegeben. Und weil Sport-Karate ohne Wettkampf (mehr war und ist das Karate dieser Experten nicht) ziemlich öde sein kann, mußten aufregende Zusätze her: also borgen, was das Zeug hält...

So wurde beispielsweise Anfang der 1990er Jahre Ch'i-Kung, das plötzlich allerorten en vogue war, von einigen Neotraditionalisten ins Karate gepfropft. Endlich mehr Tiefgang! Diesen Tiefgang erhoffte man sich vor allem auch durch die größere Welle des „Bunkai“. Dabei ging und geht es darum, möglichst alles, was einem in den Sinn kommt, in wehrlose Kata hineinzuinterpretieren. Und Kata widersetzen sich nicht; sie sind schweigsam und geduldig... Nun, dieses Bunkaiistentum wiederum bildete den Nährboden für die Anhänger des Vitalpunktkults.

Was auch immer einige als „reales Kämpfen“ betrachten, in der darauf folgenden Welle der Mixed Martial Arts schienen sie diesbezüglich das Α und Ω zu sehen und implantierten sie bereitwillig ins Karate. Und die nächsten Modewellen poltern schon am Horizont...

Grundsätzlich sind diese Modewellen nicht wirklich schlimm. Allerdings gibt es ein paar kritische Punkte, die mich zu diesem Artikel veranlaßten:
  • Zunächst gibt es Karateka, die sich gar nicht darüber im klaren sind, daß das von ihnen ausgeübte Karate Produkt einer bestimmten Modewelle ist. Da sie es aber so kennengelernt haben, würden sie schwören, daß Karate im allgemeinen, also herkömmliches Karate oder Karate wie vor meinetwegen 100 Jahren, genauso gewesen sein und noch immer so sein muß.
  • Modewellen befördern immer Personen an die Oberfläche, die durch sie profitieren wollen, sei es materiell oder ideell. Nicht in jedem Fall sind diese Personen tatsächlich kompetent. Ihr Ansehen ergibt sich durch die Modewelle, auf der sie reiten oder die sie selbst ins Rollen brachten. Und wenn etwas in Mode ist, dann kann es doch bloß richtig sein, oder?
  • Bestimmte Personen verspüren den Drang, in möglichst vielen Modewellen mitzuschwimmen, um „am Markt mithalten zu können“. Unterm Strich führt das verständlicherweise zu einem eher oberflächlichen Wissen und Können...
  • Ist jemand am herkömmlichen Karate interessiert, dann helfen Modewellen nicht, sondern sie vernebeln den Zugang und führen in ganz andere Richtungen. Beispielweise kann eine bestimmte technische Fertigkeit in einer Übertragungslinie des herkömmlichen Karate soundso sein. Trainer XY aber, der durch eine Modewelle beeinflußt (direkt durch Training oder indirekt durch Buch bzw. DVD) diese technische Fertigkeit (neu) lernte, erklärt lautstark, es müsse ganz anders sein...
Ich schrieb das aus eigener Erfahrung. Herkömmliches Karate fand und findet in kleinem Kreis statt und es hat technische Werte, für die Modewellen belanglos sind.

© Henning Wittwer