Nachdem ich bereits ein paar Worte zu den Kata Hangetsu und Tekki verloren habe, möchte ich mal auf Shūji no Kon zu sprechen kommen. Shūji no Kon ist eine Kata, die den Umgang mit dem Kampfstock (Kon oder Bō) schult. Diesbezüglich ist sie die Kihon-Gata im Karate-Dō Shōtōkan Ryū. Wenn also ein Karate-Schüler im Shōtōkan-Ryū an den Umgang mit dem Stock herangeführt wird, geschieht dies zu Beginn mittels Shūji no Kon.
Wie alle Kata innerhalb des Shōtōkan-Ryū verfügt Shūji no Kon über bestimmte systemimmanente Merkmale, die sie von den Versionen anderer Ryūha (oder Organisationen) unterscheidet. (Ich erwähne das, weil ich schon öfter gefragt wurde, ob es denn Unterschiede zwischen der Shōtōkan-Fassung und anderen Shūji no Kon gibt.)
Und genau dieser Punkt macht die Sache so faszinierend und wertvoll!
Jedenfalls gehört – wie bei allen Kihon-Gata – die geringe Anzahl an Bewegungen zu ihren Attributen. Tsuki und Uchi-Komi sind die ersten Techniken mit dem Stock, die ein Neuling mittels dieser Kata lernt. Die Stände, Fußbewegungen, der „Karate-Körper“ usw. bleiben dabei dieselben, wie bei den Kata ohne Stock. Und es wäre widersinnig, wenn dem nicht so wäre.
Gleichzeitig dürfte dem Neuling dabei ein weiterer, fundamentaler Unterschied zwischen Budō und Sport klar werden. Plötzlich wird mit einer Waffe trainiert, die richtig wehtun und gefährlich werden kann. Da ist nämlich ein Unterscheid zwischen einem blauen Auge, das ich mir „im Ring“ einfange, und einer Stockspitze, die sich in mein Auge (oder das des Gegners) bohrt… Allein für diese Erkenntnis würde sich die Übung von Shūji no Kon lohnen.
Ein weiteres technisches Merkmal ist die „Einseitigkeit“ dieser Kata. D.h., während der gesamten Kata befindet sich meine rechte Hand vorn am Stock und dieser Griff wird nicht gewechselt.
Im Shōtōkan-Ryū gilt die Formel „leere Hand als erstes, Waffen später“. Also sollten Karateka zuerst die Kihon-Gata Taikyoku, Heian und Tekki lernen und danach mit Shūji no Kon fortsetzen. Erfolgt der Lernprozeß nicht Schritt für Schritt, kann ein Lernerfolg fraglich werden oder ganz ausbleiben.
Schließlich ist vielleicht noch der Stock selbst nicht ganz unwichtig. Obwohl eigentlich jede Bō-Form (die mehr oder weniger 1,82 m lang sein sollte) verwendet werden kann, war die im historischen Shōtōkan (1938-1945) bevorzugte eine mit dünner werdenden Enden, bei der folglich die Mitte den größten Durchmesser hat. Es sollte sich um einen einsatztauglichen, schweren Stock handeln und nicht um ein dünnes, leichtes „Wettkampfmodell“. Letzteres wäre dem eigentlichen Training im Budō-Karate schlicht nicht zuträglich.
© Henning Wittwer