Durch diese formalisierte Übungsgrundlage wird enorm viel Zeit gespart und es müssen nicht ständig neue Basisdrills ersonnen werden. Dazu kommt, daß ich mich – da ja alle Äußerlichkeiten verinnerlicht sind – mehr oder weniger ganz auf die eigentlich wichtigen Punkte konzentrieren kann, nämlich die Entwicklung meines „Karate-Körpers“, den richtigen Einsatz der „Körpermechanik“, das Wie meiner Fortbewegung usw. Auf all das könnte ich kaum oder weniger gut achten, wenn ich in jedem neuen Training eine neue Art von „Kata“ zu lernen hätte. Folglich ist richtige Kata-Übung als Grundlage des Karate eine prima Sache...
Irgendwann wird das dann völlig normal.
Budō, der kämpferische Weg, jedoch beinhaltet, daß sich der Adept in den unmöglichsten Situationen erfolgreich behaupten kann. Was ist in einer kämpferischen Auseinandersetzung schon normal? Richtig, nichts! Im Idealfall kann ich Ort und Zeit und äußere Umstände eines Kampfes beeinflussen. Aber selbst in diesem Idealfall gibt es unzählige Faktoren, die nicht nach Plan laufen können oder die ich nicht beeinflussen kann. Genau aus diesem Grund finden sich in den überlieferten Lehrschriften entsprechende Erklärungen sowie Stichworte, wie z.B. Rinki-Ōhen.
Im Budō-Karate ist das Training also u.a. darauf ausgerichtet, einen Adepten auszubilden, der möglichst frei zu agieren vermag. Fraglos ist das schwierig.
Genau in diesem Sinne setzt eine Übungsvariante für das elementarste Ding im Karate, die Kata, an: das spiegelverkehrte Ausführen einer Kata. Kase Taiji Sensei nannte diese Variante „Ura“ und unabhängig davon hält es auch mein eigener Karate-Lehrer manchmal für eine gute Idee, eine bestimmte Kata auf diese Weise zu trainieren.
Die fünf Heian-Gata starten normalerweise mit einem Schritt nach links. In der anormalen Ura-Ausführung würden sie dann also mit einem Schritt nach rechts starten. Die drei Tekki-Gata starten bei normaler Ausführung mit einem Schritt zur rechten Seite. In der Ura-Version werde ich folglich spiegelverkehrt dazu jeweils mit einem Schritt nach links beginnen. So kompliziert klingt das nicht, oder?
In der Praxis ist es dann aber doch nicht so einfach. Ich erinnere mich noch gut an eine Szene, in der Kase Sensei „Kankū Dai, Ura!“ forderte und als erste Antwort lautstark „Osu!“ entgegen gebrüllt bekam. Als zweite Antwort folgte heilloses Chaos. Seit dieser Zeit glaube ich übrigens, daß „Osu“ im Karate-Slang soviel bedeutet wie: „Ich habe keine Ahnung, worum es geht!“...
Jedenfalls zeigte sich da sehr deutlich, daß freies Agieren und Anpassungsfähigkeit trainiert werden müssen und nicht bei jedem vorausgesetzt werden können.
Abgesehen davon gibt es zwei weitere Gründe, die für das Ura-Training der Kata sprechen. Einige Kata, wie Enpi oder Bassai, sind sehr einseitig. Damit meine ich, daß sie für Rechtshänder gemacht sind und explizit Bewegungen aus der Linksauslage (Normalauslage) – um mal Boxervokabular zu nutzen – schulen. Einem Linkshänder hilft also die normale Ausführung der Kata zum Üben seiner eigentlichen Auslage, seiner starken Seite, wenig.
Schließlich darf nicht vergessen werden, daß Funakoshi Gichin Sensei die Leibeserziehung (Taiiku) als einen Wert seines Karate nannte. Und die sollte ausgewogen sein. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist das Training der Ura-Version einer Kata sinnvoll. Denn je öfter ich eine Kata ausführe, desto öfter trainiere ich einseitige Gesten. Z.B. führe ich bei 100 Heian Godan 100 Mikazuki-Geri mit dem rechten Bein aus, aber 0 mit dem linken Bein.
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf, trainieren meine Trainingspartner und ich immer wieder mal Kata anormal.
© Henning Wittwer